Endlich Wochenende. Doch für Birgit Wieser und ihre Familie bedeutet das statt Erholung Stress. "Wir müssen die Einkäufe vorab erledigen, an Ausflüge ist sowieso nicht mehr zu denken", erklärt die junge Mutter zweier Kleinkinder. Aber am meisten Sorge bereitet der Schwangeren, die mit leichten Komplikationen zu kämpfen hat: "Es darf nix passieren." Denn ihr Wohnort, Steinach am Brenner, ist gerade während der Sommerreisezeit praktisch unerreichbar.

Zum Start der diesjährigen Reisezeit hat der Verkehrsinfarkt in Tirol eine neue Dimension erreicht.
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Die Ortschaft im Tiroler Wipptal, unweit des Brennerpasses, liegt entlang der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung der Alpen. Jährlich donnern mehr als zwei Millionen Lkws und noch viel mehr Pkws über die Brennerautobahn A13. Ist die überlastet – was längst der Normalzustand ist -, weicht der Verkehr auf das niederrangige Straßennetz aus. Für die Anrainer entlang der Strecke wie Wieser heißt das, im eigenen Dorf eingesperrt zu sein. Moderne Navigationsgeräte errechnen in Echtzeit mögliche Stauumfahrungen und lotsen die Blechlawine so bis auf die kleinsten Nebenstraßen.

Der totale Stillstand

Am Ende steht alles. Zum Start der diesjährigen Reisezeit hat der Verkehrsinfarkt in Tirol eine neue Dimension erreicht. Urlauber verstopften zu Pfingsten mit ihren Wohnwagen Ortsdurchfahrten entlang der alten Römerstraße im Wipptal, die für diese Art von Verkehr nicht ausgelegt sind.

Die Belastungsgrenze war endgültig überschritten. Selbst für Einsatzkräfte gab es kein Durchkommen mehr, wie Andreas Karl, Geschäftsführer des Roten Kreuz, bestätigt: "An den letzten Wochenenden ist es aufgrund der verstopften Straßen zu einigen brenzligen Situationen gekommen." Mittlerweile stationiere man die Rettungswagen an "neuralgischen Punkten" und verstärke Mannschaften, um im Notfall rasch genug bei Patienten sein zu können.

Google-Verkehrsdaten in Echtzeit

Nicht viele Wege führen nach Rom bzw. an die Adriastrände. Schon ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass die Auswahl an Straßen in Richtung Brenner begrenzt ist.

Die Politik musste reagieren. Landeshauptmann Günther Platter erließ daher vor Fronleichnam, als der nächste Verkehrskollaps drohte, temporäre Fahrverbote für den Durchreiseverkehr. Das heißt, Urlauber auf dem Weg nach Süden oder zurück nach Norden mussten auf der Autobahn bleiben. Was Tirols Politik als "Notwehrmaßnahme" bezeichnete, sorgte nördlich der Grenze in Bayern für großes Entsetzen und Klagsdrohungen in Richtung Österreich.

Der Furor der CSU, die im Freistaat den Ministerpräsidenten stellt, ist ziemlich groß. "Das Verhalten von Tirol ist diskriminierend und europarechtswidrig", zürnt Regierungschef und Parteivorsitzender Markus Söder. Er will freie Fahrt für freie Bürger.

Schon immer hat man sich, vor allem aus München oder dem südlichen Bayern, gern zum Kurztrip an den Gardasee oder an die Adria aufgemacht. Da soll es natürlich schnell durch Tirol gehen.

Dass die Androhung einer Klage just jetzt im Raum steht, da das CSU-Prestigeprojekt der Ausländer-Pkw-Maut auf Betreiben der "Ösis" vom EuGH gestoppt wurde, sieht kaum einer als Zufall. Eine krachende Niederlage war das Urteil für die CSU, die jahrelang verkündet hatte, man werde es den Österreichern schon noch zeigen. Bald müssten sie auch auf deutschen Autobahnen zahlen, nicht nur die Deutschen auf den rot-weiß-roten Routen.

Bayerische Löwe

Und dann erhebt sich das kleine Österreich gegen das große Deutschland und das auch noch größere Bayern. Die CSU weiß, dass sie bis auf die Knochen blamiert ist, das lassen die an Selbstbewusstsein nicht eben armen Bayern halt ungern auf sich sitzen. Jetzt soll Österreich also wegen der Tiroler Fahrverbote diszipliniert werden.

"Das Verhalten von Tirol ist diskriminierend und europarechtswidrig", zürnt CSU-Regierungschef und Parteivorsitzender Markus Söder.
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Doch der bayerische Löwe brüllt zunächst wieder einmal laut. Eine Klage könnte sich lange hinziehen, zudem braucht Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) zunächst die Zustimmung der großen Koalition. Ob er die schon habe, wird er diese Woche vom STANDARD gefragt. Die Antwort erfolgt etwas schmallippig: "Wir sind am Vorbereiten."

Aus dem Umfeld von Kanzlerin Angela Merkel ist hingegen keine Solidarität mit den Bayern zu vernehmen. Es heißt vielmehr, die sollten halt einfach einmal machen. Apropos Solidarität: Es sind auch bei weitem nicht alle Bayern für einen harten Weg. So sagt Ludwig Hartmann, der grüne Fraktionschef im bayerischen Landtag, zum STANDARD: "Ich habe Verständnis für diese Notwehrmaßnahmen der abgas- und lärmgeplagten Tirolerinnen und Tiroler – zumal auf Seite des deutschen CSU-Verkehrsministeriums jegliche Unterstützung bei der Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene fehlt."

Das Problem sind die Lkws

Hartmann spricht damit den wahren Kern des Problems an. Das sind nicht nur die sonnenhungrigen Germanen auf ihrem alljährlichen Weg gen Süden. Die Krux in Sachen Transit sind die Lkws. Die Brennerroute ist für den Güterverkehr die billigste Nord-Süd-Verbindung. Mit dem Ergebnis, dass Inntal- und Brennerautobahn wochentags praktisch einspurig sind, weil eine Fahrbahn von Lkws dauerblockiert wird. Alle Versuche, das gemeinsam mit den Bayern im Norden und den Italienern im Süden zu ändern, schlugen bislang fehl. Die Tiroler Forderung nach einer Korridormaut scheitert am Druck der Frächterlobbys.

Dass der Individualverkehr allein politisch durchaus lösbar ist, beweisen etwas weiter östlich Salzburg und Bayern. Dort gelten schon seit dem Vorjahr einzelne Fahrverbote für den Durchreiseverkehr, ohne dass es zu Klagsdrohungen gekommen wäre. Der Salzburger Verkehrslandesrat Stefan Schnöll (ÖVP) hat mit dem bayerischen Verkehrsminister Hans Reichhart einen Pakt gegen den Ausweichverkehr beschlossen. Mit einem "intelligenten Grenzmanagement" sollen die Kontrollen je nach Rückstau gelockert werden. Nachdem es Schnöll bereits drei Mal angekündigt hat, soll nun bis Ende Juli die dritte Abfertigungsspur am Walserberg kommen. Für den Fall, dass es sich trotzdem staut, werden Autobahnausfahrten gesperrt.

Auch in Salzburg staut es sich wegen der bayerischen Grenzkontrollen, auch durch Salzburg wälzen sich alljährlich die deutschen Urlauberkolonnen. Aber im Falle Tirols sind das eben nur die Tropfen, die das mit Lkws randvolle Transitfass zum Überlaufen bringen.

Bahntunnel ohne Zubringer

Zu allem Überfluss zeichnet sich nun auch noch das Scheitern der langfristigen Tiroler Hoffnung ab, die Situation durch eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene zu verbessern. Österreich und Italien graben zwar fleißig den Brennerbasistunnel, der 2028 eröffnet werden soll, um den Lkw-Transit zwischen München und Verona großteils unterirdisch passieren zu lassen. Doch in Bayern wurde noch nicht einmal mit dem Bau der zur Verkehrsverlagerung nötigen Eisenbahnzubringerstrecken begonnen. Vor 2040 ist daher realistischerweise nicht mit einer Fertigstellung des Brennerbasistunnels zu rechnen.

"Die Zeiten der netten Redereien sind vorbei." Platters Säbelrasseln gegen Bayern hat wohl auch mit der im Herbst anstehenden Nationalratswahl zu tun.

Die Fronten in diesem zentraleuropäischen Verkehrsstreit verhärten zusehends. Tirols Landeshauptmann Platter schlug in der vergangenen Woche ganz neue, scharfe Töne an. In der Tradition des Landeshelden Andreas Hofer, der einst gegen die Franzosen und ihre bayerischen Verbündeten ins Feld gezogen war, wetterte er gen Norden, dass die "Zeiten der netten Redereien vorbei sind". Angesprochen auf die Klagsdrohung der Deutschen meinte er mit Verweis auf die gescheiterte Pkw-Maut: "Herzlich willkommen! Das wird die nächste schallende Ohrfeige."

Platters Säbelrasseln hat wohl auch mit der im Herbst anstehenden Nationalratswahl zu tun. Die ÖVP muss Kante zeigen, zu lange hat sie das Verkehrsthema in Tirol vernachlässigt. Die Bewohner des Außerfern können ein Lied davon singen, ebenso wie die Wipptaler. In diesen Regionen ist der Verkehrsinfarkt zum Alltag geworden. Dass nun sofort temporäre Fahrverbote für die Dörfer um Innsbruck erlassen wurden, wo "die Schmattigen", also die Reichen, wohnen, kritisieren manche als Klientelpolitik. Doch der Großteil der Tiroler unterstützt die schärfere Gangart, weil sich endlich etwas bewegt.

Am Donnerstag präsentierte die Landesregierung ein ganzes Paket an verschärften Regelungen für den Transitverkehr, am Freitag die Ausweitung der temporären Fahrverbote für die Bezirke Kufstein und Reutte. Die politische Debatte in dieser Heftigkeit sei neu, aber notwendig, erklärte Platter. Eine aktuelle Umfrage des IMAD-Institutes gibt ihm recht: Neun von zehn Tirolern unterstützen die Maßnahmen und fordern eine Ausweitung.

Familie Wieser im Wipptal wünscht sich von der Politik langfristige Verkehrslösungen wie den Brennerbasistunnel. Fahrverbote allein seien zu wenig: "Wir verstehen ja, dass die Leute in den Urlaub fahren wollen und dass Gütertransport notwendig ist. Aber haben wir kein Recht auf Erholung und Lebensqualität?" (Birgit Baumann, Stefanie Ruep, Steffen Arora, 29.6.2019)