Ein äußerst rares "Tiefseemonster".
Foto: NOAA/Edie Widder and Nathan Robi

"Es war ein magischer und geradezu surrealer Moment, als wir beobachten konnten, wie sich dieses Tier in freier Natur verhält", berichtet Heather Bracken-Grissom von der Florida International University. Die Meeresbiologin ist Mitglied jenes Teams, dem vor wenigen Tagen einmalige Aufnahmen eines Wesens gelangen, das Forschern erst wenige Male vor die Linse kam: des Riesenkalmars Architeuthis dux.

Trotz seiner beeindruckenden Größe von bis zu zwölf Meter und einem Gewicht von weit über hundert Kilogramm ist bis heute kaum etwas über die Lebensweise des Riesenkalmars bekannt. Weniger als 1.000 Exemplare konnten bisher nachgewiesen werden, die überwiegende Mehrzahl davon wurde tot angespült. Die ersten Filmaufnahmen eines lebenden Architeuthis in seinem natürlichen Lebensraum in der Tiefsee sind überhaupt erst 15 Jahre alt.

Das erste Exemplar eines Riesenkalmars außerhalb japanischer Gewässer trieb 2016 schwer verletzt vor der spanischen Küste.
Foto: parque de la vida/javier ondicol

Das erste Riesenkalmar-Individuum, das außerhalb japanischer Gewässer lebend in der Nähe der Küste auftauchte, war am 7. Oktober 2016 in der Nähe des Strandes von A Coruña in Galicien gesichtet worden. Das Tier war schwer verletzt und starb kurz darauf. Untersuchungen ließen damals darauf schließen, dass die Wunden bei einem Zweikampf mit einem größeren Artgenossen entstanden sind.

Einmalige Aufnahmen

Nun haben Wissenschafter an Bord des Forschungsschiffs Point Sur im Rahmen einer Expedition der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) im Golf von Mexiko rund 750 Meter unter der Meeresoberfläche erstmals ein Exemplar von Architeuthis dux in Gewässern nahe den USA gefilmt. Das Tier wurde am 19. Juni gut 160 Kilometer vor der Küste bei New Orleans mit der speziellen Medusa-Kamera festgehalten.

Video: Die aktuelle Begegnung in über 700 Metern Tiefe dauerte nur wenige Sekunden.
oceanexplorergov

Das von Edith Widder von der Ocean Research and Conservation Association mitentwickelte Kamerasystem sollte Riesenkalmare und andere Tiefseeräuber anlocken, indem es die Biolumineszenz von Beutetieren imitiert – und die Technik funktionierte letztlich sogar besser als erhofft: "Zu wissen, dass ich Zeugin von etwas geworden bin, das bisher erst einmal filmisch festgehalten werden konnte, erfüllt mich mit einem überwältigenden Gefühl der Dankbarkeit und des Respekts vor all dem, was es dort unten noch zu entdecken gibt", sagt Bracken-Grissom.

Fangarme aus der Finsternis

Den Bildern ging freilich eine Menge Arbeit voraus. Nach fünf langwierigen Einsätzen der ferngesteuerten Medusa-Kamera im Verlauf der Expedition und mehr als 120 Stunden an bereits gesammelten Filmaufnahmen war die Freude über das Auftauchen des Tiefseeriesen dann umso größer. "Zunächst beobachtete der Riesenkalmar die LED-Beute, dann wickelte er seine langen Fangarme darum", berichten die Wissenschafter.

"Als er aber merkte, dass der vermeintliche Leckerbissen nicht das war, was er zu sein vorgab, verschwand der Tintenfisch rasch wieder in der Finsternis." Dass es sich tatsächlich um Architeuthis dux und keine andere Kalmarspezies handelt, bestätigte der Kopffüßerexperte Michael Vecchione von der NOAA. Aufgrund der Aufnahmen schließt der Wissenschafter, dass es sich um ein Jungtier von bis zu 3,7 Metern Länge gehandelt hat.

Der Kolosskalmar erreicht noch größere Dimensionen.
Foto: Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa

Weiterer Koloss

Die größten ausgewachsenen Riesenkalmar-Exemplare könnten inklusive Fangarme bis zu zwölf Meter lang werden, die meisten Tiere erreichen jedoch eher Längen von etwa fünf Metern. Übertroffen wird Architeuthis hinsichtlich Länge und Gewicht nur von seinem Verwandten Mesonychoteuthis hamiltoni, dem Kolosskalmar, der in noch größeren Tiefen leben dürfte. Er ist um einiges kompakter gebaut und entsprechend schwerer. 2007 wurde ein solches Tier vor der Küste der Antarktis gefangen, das es (ohne Arme) auf eine Länge von 4,20 Metern und ein Gewicht von über 500 Kilogramm brachte. Das Wesen besaß die größten je von Biologen untersuchten Augen: Sie waren mit 27 Zentimetern Durchmesser so groß wie Basketbälle. (tberg, 1.7.2019)