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Manfred Weber wird nun wohl Parlamentspräsident und nicht Kommissionschef.

Foto: REUTERS/Andreas Gebert

Noch ist nicht restlos klar, ob der neue Präsident der EU-Kommission überhaupt ins Amt gewählt wird und mit welcher Mannschaft er dann antreten kann. Denn was immer auch die 28 Staats- und Regierungschefs nach inzwischen bereits drei EU-Sondergipfeln seit den Europawahlen durchsetzen wollen – ein Unsicherheitsfaktor bleibt: Frans Timmermans muss erst nominiert werden und das Europäische Parlament ihm dann noch zustimmen.

Dazu braucht es eine einfache absolute Mehrheit im Plenum in Straßburg, konkret mindestens 376 der insgesamt 751 Abgeordneten in Straßburg. Ob sich eine solche "doppelte Mehrheit" mit dem Rat der Regierungschefs, wie sie der EU-Vertrag vorsieht, am Ende auch findet, ist zumindest nicht ganz sicher. Christdemokraten und Sozialdemokraten, die den Deal von Brüssel zimmerten, haben gemeinsam keine Mehrheit mehr. Sie brauchen mindestens eine weitere Fraktion zur Zustimmung. Bevor Ratspräsident Donald Tusk den Gipfel unterbrach, lag ein Deal auf dem Tisch, der allerdings nicht die propagierte Ausgewogenheit zwischen Männern und Frauen bzw. zwischen West- und Osteuropäern erfüllt.

Verantwortlich dafür ist das Vorgehen der Vertreter der Nationalstaaten in den vergangenen Wochen: Sie lieferten den Wählern, den Bürgern in Europa ein unwürdiges Schauspiel.

Wettbewerb des Zerstörens und Verhinderns

Anstatt nach der EU-Wahl das Momentum eines positiven Aufbruchs zu nützen, das sich durch eine stark gestiegene Wahlbeteiligung in fast allen Ländern, durch den ersten EU-weiten Wahlkampf von in Vorwahlen der Parteifamilien gekürten Spitzenkandidaten und durch echte länderübergreifende Wahlprogramme ergab, fielen die Staats- und Regierungschefs zunächst in einen garstigen Wettbewerb des Zerstörens und Verhinderns zurück.

Erst wurde der Wahlsieger vom 26. Mai, der Christdemokrat Manfred Weber, von einer zynischen Allianz des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit den Liberalen und den Sozialdemokraten verhindert, ohne dass man noch richtig über ein Arbeitsprogramm für die nächste Kommission gesprochen hatte. Nachdem Weber selber den Weg freigemacht hatte und bereit war, seinen sozialdemokratischen Rivalen Frans Timmermans als Kommissionschef zu akzeptieren, wenn er selber im Gegenzug EU-Parlamentspräsident werde – eine durchaus salomonische Lösung –, gingen seine eigenen EVP-Parteifreunde unter den Regierungschefs daran, den Niederländer möglichst zu beschädigen. Das Ziel war klar: Der Preis für die Kür von Timmermans sollte in die Höhe getrieben werden.

Poker um Posten statt um Programme

Die Christdemokraten wollten nun auch noch den Nachfolger von Donald Tusk als Ratspräsident zugesagt bekommen, was im Gegenzug natürlich wieder die liberalen Regierungschefs auf die Palme brachte. So wurde die ganze Nacht auf Montag gefeilscht, gestritten, gepokert: nur um die besten Posten, nicht um Ideen und Programme.

Es ist ernüchternd. Und eine Konsequenz scheint logisch: Der neue Chef der EU-Zentralbehörde wird sein Amt nicht strahlend und mit Optimismus beginnen können, sondern als jemand, der nach schmutzigen Deals, nationalen Egoismen und Tricks an die Macht kam – und nicht, weil er durch das beste Zukunftskonzept überzeugte. Ein auf Twitter kursierendes Video eines Gesprächs Timmermans mit dem EVP-Premier von Bulgarien, Boris Borissow, dokumentierte das aufs Hässlichste.

Der Premier hatte in der Sitzung heftig gegen Timmermans polemisiert. Dann saß er mit diesem plötzlich in der bulgarischen Botschaft ein paar hundert Meter vom Ratsgebäude entfernt zusammen und handelte mit ihm aus, dass sein Land in den Schengenraum aufgenommen werde. Im Gegenzug werde er ihn als Kommissionschef akzeptieren.

Bürger wenden sich ab

Bei dieser Art, einen Kommissionschef zu bestimmen, handelt es sich um eine "Methode uralt". Die Regierungschefs haben offenbar kollektiv nicht begriffen, dass sie selbst den gutwilligen Bürgern ihre Lust auf mehr Europa vermiesen. Man kann es ihnen nicht verübeln, wenn sie sich angewidert abwenden.

Sind also nur die Regierungschefs an dieser Misere schuld, allen voran der eitle Präsident Macron, der offenbar glaubt, man könne das gemeinsame Europa wie ein Sonnenkönig führen? Und neben ihm Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, die keine eigenen Ideen hat, keine großen Ziele, die nur noch als Sachwalterin eigener Machtausübung agiert?

Keineswegs. Einen großen Anteil an diesem unwürdigen Schauspiel haben auch die EU-Parlamentarier, ihre Fraktionen in Straßburg und die Parteifamilien, die sie tragen. Sie führen immer gerne das große Wort von der nötigen Demokratisierung der EU im Mund, von der Transparenz.

Keine tragfähigen Koalitionen

Das ist gut gedacht und schön gesprochen, aber bar jeglicher Realität. Wenn die EU-Parlamentarier trommeln, dass sie niemand anderen als Kommissionschef akzeptieren als einen der von ihnen nominierten Spitzenkandidaten bei den Europawahlen, es dann aber nicht schaffen, tragfähige Koalitionen zu bilden und dem Rat der Regierungschefs selber einen mehrheitsfähigen Personalvorschlag zu machen, geben sie sich selber auf. Man kann solche Parlamentarier nicht wirklich ernst nehmen.

Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Sehr einfach: Wenn Rat und Parlament die Union nicht noch weiter beschädigen wollen, müssen sie die neue EU-Kommission beauftragen, als ersten Akt ein neues gemeinsames EU-Wahlrecht und einen transparenten Prozess zur Ernennung des EU-Spitzenpersonals vorzulegen. Das wird die wichtigste Aufgabe des neuen Kommissionspräsidenten sein: Er muss die EU radikal demokratisieren. Eine solche Show wie heute in Brüssel darf es in Zukunft nie mehr geben. (Thomas Mayer, 1.7.2019)