"Keine Katze hat sich damals um uns gekümmert." So beschreibt Trudy ihre erste Schulerfahrung in Manhattan im Jahr 1939. "Ich war ein scheues Kind. Wie sich herausgestellt hat, hat mein Englisch nicht existiert." Trudy stammt aus einer nicht-religiösen jüdischen Wiener Bankiersfamilie, die 1939 von Wien nach New York emigrierte, nachdem der Großvater monatelang in Dachau interniert gewesen war. Scheu wirkt sie heute gar nicht mehr, höchstens ein wenig nachdenklich, vor allem wenn sie über ihren kürzlich verstorbenen Bruder erzählt, der zwei Jahre älter war als sie. 

Trudy, 93, ist Künstlerin und Fotografin, trägt häufig große selbstgemachte Schmuckstücke und lange bunte Röcke. Sie hat strahlend blaue Augen und ein Fotograf hat ihr einmal gesagt, "dass er ihre Falten liebe". Stolz ist sie auf ihre zahlreichen Pflanzen, ihre Steinsammlung und die sonstigen Schätze, die sich im Laufe ihres Lebens in ihrer Wohnung in Manhattan angesammelt haben.   

Trudy in ihrer Wohnung in Manhattan.
Foto: Stella Schuhmacher

Enge Beziehung zu Österreich

Trudy spricht fließend Deutsch und ist mit Österreich sehr verbunden. Beiläufig erwähnt sie, dass sie vor kurzem "Tante Jolesch" von Friedrich Torberg an einem Tag auf Deutsch gelesen habe. Außerdem erzählt sie von ihrer "ewigen Sehnsucht nach der österreichischen Landschaft", die sie nicht abschütteln kann. Anfang der 50er-Jahre hat sie sogar ein paar Jahre in Wien gelebt und dort in einem Musikgeschäft gearbeitet, kehrte aber bald nach New York zurück. Häufig reist sie nach Wien und erzählt strahlend von den vielen jungen Leuten, die sie dort kennt und trifft, vor allem ehemalige Gedenkdiener, die sie über den Stammtisch kennengelernt hat. Seit zwei Jahren ist sie die Gastgeberin dieses Stammtischs, einem seit 1943 in Manhattan wöchentlich stattfindenden Treffen deutscher und österreichischer Holocaust-Überlebender.

Trudy in den österreichischen Alpen.
Foto. Stella Schuhmacher

Flucht nach dem Anschluss

Wenn Trudy über ihre Kindheit in Wien erzählt, glitzern ihre Augen. Sie wuchs in einem sehr behüteten Umfeld mit vielen Hunden auf. In ihrer Wohnung hängt ein Foto, auf dem sie in Skiausrüstung irgendwo in den österreichischen Bergen zu sehen ist.

Trudy und ihr Hund.
Foto: Stella Schuhmacher

Nach der Trennung ihrer Eltern nahm ihr Großvater eine Ersatzrolle in Trudys Leben ein. Sie blickte zu ihm auf und umso schrecklicher war es für sie, als er nach dem Anschluss im März 1938 im Konzentrationslager Dachau interniert wurde. Trudys Mutter reiste daraufhin mit einem Sack Geld nach Berlin und bestach einen Beamten, was zur sofortigen Freilassung des Großvaters führte. Es war nun klar, dass die Familie so schnell wie möglich emigrieren musste. Auch Nachbarn wandten sich nach dem Anschluss gegen die Familie und holten häufig die Polizei. Trudys engste Schulfreundinnen redeten plötzlich nicht mehr mit ihr und sie wurde schlussendlich nur mehr zu Hause unterrichtet. Noch heute wird sie traurig, wenn sie darüber erzählt.

Die Ausreise war dann relativ einfach: "Wir hatten großes Glück. Eine entfernte Verwandte in New York hat uns allen ohne Zögern Affidavits besorgt", sagt Trudy. Ihr zwei Jahre älterer Bruder war bereits in Sicherheit in England. Anderen Verwandten gelang die Ausreise allerdings nicht. In Trudys Wohnung hängt heute die antike Schlüsselsammlung ihres Großonkels, der in Auschwitz ermordet worden war.

Antike Schlüsselsammlung in Trudys Wohnung.
Foto: Stella Schuhmacher

Kurz nach der Ankunft in New York beschloss der Großvater, die Kinder taufen und den Familiennamen ändern zu lassen - zu deren Schutz. Trudy wehrte sich: "Ich habe zum großen Erstaunen von der ganzen Familie nein gesagt. Ich will meinen Namen behalten. Ich wurde getauft. Das habe ich dann rückgängig gemacht. Ich habe es so falsch gefunden. Das Taufen und die Namensänderung. Das hatte nichts mit Religion zu tun. Ich konnte es nicht verstehen. Und ich war so von meinem Großvater enttäuscht."

Erste Schulerfahrung in New York

Trudy wurde gleich nach ihrer Ankunft in eine New Yorker Grundschule geschickt, wo sie zunächst mit viel jüngeren Kindern zusammen war. Das war damals das übliche Vorgehen mit Flüchtlingskindern, die kein Englisch konnten. Sobald sie dann die Sprache beherrschten wurden sie durch die Schulklassen durchgeschleust, bis sie mit ihren Altersgenossen mithalten konnten. Trudy konnte kaum Englisch und der erste Schultag war "entsetzlich". Am zweiten Tag ereignete sich ein Wunder, an das sie sich noch heute gerne erinnert.

”Plötzlich hat eine Glocke geläutet und alle sind in alle Himmelsrichtungen verschwunden. Und ich bin weinend in irgendeinem Stiegenhaus gesessen. Ich sehe mich noch auf den Stufen sitzen. Am zweiten Schultag hat sich ein Wunder ergeben: Neben mir, ganz direkt neben mir, saß eine Puerto-Ricanerin, die konnte nur Spanisch. Ich sehe mich noch, wie wir Hände hielten, und dann war alles okay. Ich war nicht mehr ganz alleine. Und ich denke immer wieder daran, was das für ein Wunder war."

Vor kurzem hat Trudy ihrer alten Schule auf der Upper West Side in Manhattan einen Besuch abgestattet, auf meine Einladung hin, da meine Kinder zufällig in die gleiche Schule gehen wie sie damals. Trudy wurde von der Direktorin herzlich begrüßt und hat mit zehnjährigen Schülerinnen und Schülern über ihre Erfahrung als Überlebende des Holocaust und ihre ersten Schultage in New York geredet. Die Schüler schrieben ihr danach Dankesbriefe und zogen Parallelen zu ihren eigenen Familiengeschichten, beispielsweise Flucht nach Israel oder aus Korea. Im Folgenden sind Auszüge aus den Briefen zu lesen:

Nach dem Schulbesuch.
Foto: Stella Schuhmacher

"I can relate to your story because my grandfather also escaped the Nazis. His mother sent him with a Kindertransport from Vienna to England and said this will be a great adventure. When he was nine, he left on the train. Your experiences are similar. Thank you for coming."

"My great-aunt traveled on the last boat to America before the war. A different aunt is a jeweler…you were very brave to tell us your story. You are very funny too."

"You are incredibly brave to talk about it. Most people are timid talking about their past. My grandfather and his sister had to escape Korea because of the Korean war."

"I am Jewish too and I really look up to you. Your story was heartbreaking to me. My grandfather had to escape. He and his family had to be smuggled out to Israel."

Auch die Tatsache, dass Trudy dieselbe Schule besuchte wie sie, faszinierte die Schüler:

"It was an honor to meet someone with such a rich and adventurous life. I am so proud to go to the same school you went to. …I have one question: which do you like better, the school in 1939 or in 2019, besides the technology?" 

Gegenwartssorgen und Stammtisch

Trudy sagt über sich, dass sie überhaupt nicht politisch veranlagt sei, sondern immer Künstlerin war. Trotzdem macht sie sich zurzeit große Sorgen: "Jetzt ist die Politik so scheußlich. Ich fürchte mich schon jeden Tag, wenn ich die Tür aufmache und die 'New York Times' hereinhole, was schon wieder Schreckliches passiert ist. Es ist grauenhaft. Wo man hinschaut, es geht alles in die falsche Richtung. Wie das weitergehen soll. Ich muss gestehen, ich bin froh, dass ich so alt bin."

Über die politische Lage, sowohl in den USA als auch in Österreich, wird auch beim Stammtisch, den Trudy zurzeit jeden Mittwoch bei sich zu Hause organisiert, viel geredet. Allerdings wäre Trudy froh, wenn einmal eine Woche ohne die Nennung Trumps vergehen würde. Trotzdem ist der Stammtisch sehr wichtig für sie. Sie räumt auf und bäckt Kuchen, er macht die Woche nicht so endlos. Und es ist eine Verpflichtung, die sie auf sich genommen hat und die sie richtig freut. (Stella Schuhmacher, 6.9.2019)

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