Das Sujet der Kampagne "Stoppt Zwangsheirat – Nein zu Gewalt an Frauen" von der Hilfsorganisation Terre des Femmes aus dem Jahr 2004.

Foto: terre des femmes/Max Lautenschläge

Eigentlich hätte das hier eine Kolumne über die Klischees sogenannter Balkan-Hochzeiten werden können: Kitsch, Pomp, Autokorsos, Schüsse aus bewilligungspflichtigen Feuerwaffen, zu viel Sliwowitz und gigantische Grillplatten. Meine Eltern sind in diesem Sommer wieder auf so ein Fest eingeladen.

Sterbefälle, Geburten, Hochzeiten – diese News aus der "Community" teilt meine Mutter immer mit mir. "Ach, die Tochter von S. heiratet schon. Ist sie nicht erst 20?" – "19, gerade fertig mit der Lehre. Aber du kennst S., er ist halt sehr altmodisch."

Tetschen und Anstand

Ja, ich kenne S. Mit altmodisch meint meine Mutter, dass er seine Kinder streng erzogen hat, samt gelegentlichen Tetschen. Und dass er sehr genaue Vorstellungen davon hat, "was sich gehört" und was nicht. Es gehört sich nämlich nicht, dass seine Tochter mit ihrem (ersten?) Freund unverheiratet zusammenlebt, was sie gerne tun würde. Also wird geheiratet, damit alles seine Ordnung hat.

Gegen den Bräutigam war nichts einzuwenden. Gleiche Herkunft und gleiche Konfession wie die Familie der Braut. Wunderbar. Zumindest in den Augen von S. Mich hingegen übermannt ein kleiner Wutreflex. "Das ist ja fast eine Zwangsverheiratung", schleudere ich meiner Mutter halb im Spaß entgegen. Und bereue es sofort.

Kontrolle

Natürlich ist das keine Zwangsheirat. Im Gegenteil. Die beiden sind verliebt. Und damit sie zusammen sein können, müssen sie halt auch in Wien im Jahr 2019 heiraten. Um die Eltern zufriedenzustellen. Diese wollen nämlich vermeintliche Kontrolle. Kontrolle über den weiteren Lebensweg der Tochter, darüber, wie und mit wem sie ihre Sexualität auslebt. Sie soll nicht "vom Weg abkommen", denn was "würden die Leute sagen". Sprüche, die sich in manchen Teilen der exjugoslawischen Gastarbeiter-Community seit 50 Jahren nicht geändert haben. Familien wie die unseres Bekannten S. sind in der absoluten Minderheit, wage ich zu behaupten, aber es gibt sie.

Und es gibt in Wien Familien und Communitys, die weit fatalere Ansichten dazu haben, wann und wie die Töchter unter die Haube kommen sollen. Türkische, kosovarische, arabische, armenische oder auch Roma-Familien wollen auch in der Diaspora dafür sorgen, dass alte Traditionen fortgesetzt werden. Da geht es bei weitem nicht lediglich um den Zeitpunkt der Hochzeit. Junge Mädchen werden gegen ihren Willen verheiratet.

Hilfe und Beratung

Dass es sie gibt oder wie es ihnen ergeht, erfahren wir nur selten. Lediglich wenige spektakuläre, tragische Fälle gelangen vereinzelt an die Öffentlichkeit. 123 Mädchen und junge Frauen haben im Jahr 2018 Hilfe und Rat bei der Wiener Beratungsstelle Orient Express gesucht. Die Zahlen seien stabil und "leicht steigend", sagt Meltem Weiland, die die bundesweite Koordinationsstelle gegen Verschleppung und Zwangsheirat leitet. Alle 123 Mädchen waren von Zwangsheirat bedroht oder betroffen.

Hier erhalten die betroffenen Mädchen rechtliche Beratung und erfahren etwa, dass Zwangsheirat in Österreich verboten ist. Oder auch Tipps: eine Münze in der Kleidung verstecken, damit man am Flughafen auffällt und spätestens hier das Sicherheitspersonal auf sich aufmerksam machen kann. Wenn sich die Mädchen schon im Ausland – meistens ist es das Herkunftsland der Eltern – befinden, dann wird es für die österreichischen Behörden schwieriger, ihnen zu helfen.

Weiland rät den Mädchen, sich rechtzeitig bei der Beratungsstelle zu melden. Wenn man etwa ein halbes Jahr Zeit habe, bis die bevorstehende Reise ins Ausland stattfindet, sei es leichter auszuloten, ob man mit den Eltern noch reden und die Heirat abwenden kann.

Im Fall einer akuten Bedrohungssituation gibt es auch eine Notwohnung für betroffene Mädchen und Frauen, wenn sie sich dazu entschließen, die Familie zu verlassen. Der Verein Orient Express klärt auch Lehrer, Sozialarbeiter oder Schulpsychologen über das Thema Zwangsheirat auf. Sollte sich ein Mädchen vertrauensvoll an sie wenden, wissen sie, wo Hilfe zu holen ist. Einige Lehrer melden sich auch, wenn im Herbst, am Beginn des neuen Schuljahrs, Schülerinnen ohne Begründung nicht mehr auftauchen.

Wurzel des Übels

Das alles hat natürlich wenig mit der Tochter des Herrn S. zu tun. Man hat sie, wie es in vielen exjugoslawischen Familien üblich ist, dazu angehalten, eine gute Ausbildung zu machen. Lange Partynächte oder Reisen ohne die Eltern waren allerdings verboten. Erlaubt war der Folkloreverein. Es geht den Eltern angeblich um "Traditionspflege", aber natürlich auch darum, dass die Töchter und Söhne die "richtigen Ehepartner" finden. Es geht um Kontrolle.

Um die elterlichen Vorstellungen von "Anstand" zu erfüllen, muss die Tochter des Herrn S. lediglich eine pompöse Balkanhochzeit – auf die sie vielleicht gar keine Lust hat – über sich ergehen lassen. Das ist niemals mit den Schicksalen jener Mädchen zu vergleichen, die in einer Ehehölle voller Gewalt enden, vielleicht sogar in einem Land, dass sie gar nicht kennen. Ich möchte lediglich auf die gemeinsame Wurzel beider Phänomene hinweisen: Es sind überholte Vorstellungen davon, wie Frauen ihre Leben gestalten sollen, wann und mit wem sie Sex haben dürfen und wie ihr Verhalten in den Communitys ankommt.

Diese zutiefst patriarchalen Normen, die das Wohl der einzelnen Frau der Tradition und der Kontrolle des Kollektivs unterordnen, kommen in unterschiedlichen Ausprägungen noch immer viel zu oft vor und spielen eine viel zu große Rolle. (Olivera Stajić, 2.7.2019)