Schon 1984 schrieb Otto Angehrn einen "Nachruf auf die Ehre" – zu Recht: Als Maßstab für richtiges Verhalten hat "Ehre" in Europa längst seine Bedeutung verloren. Wer heute jemanden als "ehrenhaft" bezeichnet, meint damit ein Individuum und dessen persönliche Integrität: "Es kann die Ehre dieser Welt dir keine Ehre geben / Was dich in Wahrheit hebt und hält / Muss in dir selber leben", dichtete Theodor Fontane schon im 19. Jahrhundert. Ehre ist zu einer inneren Größe geworden.

Doch diese Art "Ehre" ist nicht gemeint, wenn Menschen "Respekt" einfordern, ihre Ehre beleidigt sehen, jemanden zum "Ehrenmann" erklären oder Gewalt ausüben im Namen der (verlorenen) Ehre. Wovon ist also die Rede, wenn es in einem türkischen Sprichwort heißt, die Ehre zu verlieren sei schlimmer als das Leben zu verlieren?

Was Ehre bedeutet

Historisch und gegenwärtig finden sich weltweit ähnliche Vorstellungen von Ehre. Sie haben auch die europäische Geschichte geprägt, von der Welt Homers und der Römer über die mittelalterlichen Ritter bis hin zum neuzeitlichen Duell. Heute finden wir Ehrenvorstellungen vor allem in mediterranen Kulturen, im Nahen und Mittleren Osten, in Süditalien, Griechenland, Albanien, der Türkei, der Levante, Pakistan, Afghanistan, aber auch in Afrika und Ostasien. Trotz aller Unterschiede bestehen zwischen ihnen einige Gemeinsamkeiten.

Traditionelle Ehre lässt sich sehr einfach als "Anrecht auf Respekt“ definieren. Sie ist einerseits Teil des Selbstbildes (das Gefühl, dieses Anrecht zu haben) und andererseits ein sozialer Status (das Wissen der anderen um dieses Anrecht). Aber: Ehre kommt einen Menschen nicht von sich aus zu, sondern hängt immer ab von der Anerkennung durch eine bestimmte soziale Gruppe und von der Erfüllung der sozialen Normen, die von dieser Gruppe definiert werden – dem "Ehrenkodex". Eine solche Gruppe kann eine Großfamilie, ein Clan, eine Dorfgemeinschaft, ein Stamm, eine ethnische oder religiöse Gruppe oder ein gesellschaftlicher Stand (zum Beispiel Adel, Rittertum, Militär) sein. Dieses Anrecht auf Respekt hat man stets nur in den Augen der jeweiligen Bezugsgruppe, die es einem zusprechen oder aberkennen kann: Ehre, die man nicht verlieren kann, ist keine Ehre. Es gilt, sie zu rechtfertigen und im Notfall selbst (!) zu verteidigen oder wiederherzustellen – Ehrenvorstellungen haben stets einen Hang zur Selbstjustiz. Entscheidend sind dabei allein die Normen und das Ansehen in der Bezugsgruppe, nicht staatliche Gesetze oder andere gesellschaftliche Konventionen.

Wichtig für das Duell war die Bereitschaft, anzutreten; dann konnte man sich auch anders einigen.
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Scham und Schande

Die Gegenbegriffe zu Ehre sind Scham und Schande: Ein Verstoß gegen die soziale Ordnung wird von der Gemeinschaft als Schande empfunden, worüber der Einzelne Scham empfindet. Er ist damit als ganzer Mensch in Frage gestellt. Hilfreich ist zudem die Unterscheidung aus horizontaler und vertikaler Ehre: Die horizontale Ehre ergibt sich aus dem gegenseitigen Respekt aller, die zu einer Gruppe dazugehören; innerhalb dieser Gruppe kommt die vertikale Ehre dann besonders verdienten Personen zu, zum Beispiel herausragenden Individuen, Älteren oder bestimmten soziale Rollen (Vater, Familienoberhaupt).

Ehre ist somit Teil eines gesellschaftlichen Ordnungssystems, das den Menschen primär als ein soziales Wesen begreift, das bestimmte Rollenerwartungen zu erfüllen und seine eigenen Interessen jenen der Gruppe unterzuordnen hat. Eine solche moralische Ordnung baut auf Grundwerte wie Zugehörigkeit, Loyalität, Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Autorität, Ehrfurcht, Reinheit und starken sozialen Zusammenhalt.

Ehre bei Frauen: Sexualität und Ehrenmorde

Die Psychologen Richard Nisbett und Dov Cohen haben folgende Kennzeichen traditioneller Ehrenkulturen bestimmt:

  • Dominanz von Männern mit engen sozialen Verbindungen (Clan, Stamm, gewählte Gemeinschaft)
  • Autonomie und Freiheit als männliche Ideale: Männer sind allein den gruppeneigenen Autoritätspersonen gegenüber verpflichtet, nicht anderen Autoritäten
  • besonderer Wert von Status und Reputation, daher harsche Reaktion auf empfundene Beleidigungen
  • Bereitschaft, seinen Status selbst zu verteidigen, auch durch den Einsatz von Gewalt
  • Gäste und Klienten genießen unbedingten Schutz (heiliges Gastrecht)
  • Männern ist vor- und außerehelicher Sex gestattet
  • Sorge um die Verletzbarkeit und Jungfräulichkeit der Frauen: Männer haben über die zu ihnen gehörigen Frauen (Ehefrau, Tochter, Schwester) zu wachen
  • Kontrolle der weiblichen Sexualität und des weiblichen Körpers durch Verhüllung, räumliche Absonderung oder Genitalverstümmelung
  • physische und verbale Verletzungen der weiblichen Ehre müssen durch einen schutzbeauftragen Mann gerächt werden

Eine strenge Unterscheidung von Männern und Frauen wird hier deutlich: Während für Männer eine Art "heroisches Ethos" gilt (Mut, Selbstverteidigung, Reaktion auf Beleidigungen, Stärke, Ausdauer, Gastfreundschaft, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Großzügigkeit), geht es für Frauen primär um deren Sexualität und ein entsprechendes Wohlverhalten. Damit wird auch die männliche Ehre an jene der Frauen gebunden: Deren Verhalten wird zum Angelpunkt der Familienehre und jede unerwünschte Handlung als schändliches, ehrloses Verhalten streng sanktioniert. Verbale Attacken gegen zu schützende Frauen verlangen eine entsprechende männliche Reaktion zur Wahrung der Ehre.

Gleichzeitig sind Frauen von höchster Bedeutung für das System, da sie durch ihre Verheiratung die Beziehungen zwischen Familien oder innerhalb von Familienclans vertiefen. Sie sind daher oft Objekt arrangierter oder erzwungener Heiraten. Während junge Männer ihre Ehre durch entsprechendes Verhalten erwerben, aufrechterhalten und manchmal auch wiederherstellen müssen, ist die Ehre einer unverheirateten Frau unmittelbar mit ihrem Status der Jungfräulichkeit verknüpft und kann von ihr nur verloren werden. Dies bedeutet dann "Schande“ für die Familie, die in ihrer Aufsichtspflicht versagt hat und damit ihre familiäre Ehre verliert. Das Wiederherstellen dieser Familienehre verlangt dann im schlimmsten Fall den sogenannten "Ehrenmord".

Am Morden gibt es nichts Ehrenhaftes. Demonstranten in Pakistan 2014.
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Die Mann-Frau-Differenz ist so groß, dass sich in verschiedenen Regionen (etwa Albanien und Afghanistan) das Modell der eingeschworenen Jungfrau etabliert hat: Hat eine Familie kein männliches Oberhaupt mehr, kann eine Frau ihr weibliches Geschlecht und ihre damit verbundene Sexualität rituell aufgeben und wird auf diese Weise zum Mann gemacht. Erst dann kann sie eine Autoritätsfunktion ausüben.

Wozu Ehre gut ist

Spätestens jetzt stellt sich die Frage, wozu Ehre gut ist und warum ihre Bedeutung vielerorts ungebrochen ist. Ein ehrenbasiertes Gewohnheitsrecht hat unter bestimmten Umständen einige Vorteile. Es bietet Orientierung in Gesellschaften, in denen es kaum formale Rechtsstrukturen und Schutz des Einzelnen durch staatliche Einrichtungen (Polizei, Justiz) gibt; oder diese Strukturen existieren zwar, gelten aber als schwach oder korrupt. Ehre ist ein Modell sozialer Organisation, wenn Rechtstaat, staatliches Gewaltmonopol und soziale Sicherheitssysteme nicht oder kaum ausgeprägt sind. Sie weist Menschen als verlässlich und vertrauenswürdig aus, sie schafft Vertrauen und Stabilität, durch Austausch von Gefälligkeiten und Hilfestellungen etabliert sich ein System aus gegenseitigen Verpflichtungen, auf die man zur Not zählen kann – "Der Pate" lässt grüßen. Ehre verpflichtet zu Loyalität und Unterstützung, sorgt so für materielle Sicherheit und Schutz und befriedigt das menschliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung.

Für Migrantinnen und Migranten aus Kulturen mit einem ehrenbasierten Gewohnheitsrecht kann dieses Schutz und Orientierung in der fremden Mehrheitsgesellschaft bedeuten, aber auch soziale Aufwertung: Weil der Status der Ehre unabhängig von materiellen Kriterien besteht, bleibt die Ebenbürtigkeit mit den anderen auch bei ökonomischer Unterlegenheit erhalten. Dadurch ist es gerade für Jugendliche aus prekären sozialen Verhältnissen attraktiv, ihr Selbstbewusstsein durch ihren Ehrenstatus abzusichern: Man selbst hat Ehre, die Mehrheit der Gesellschaft nicht.

Ehre ist daher nicht einfach mit bestimmten Kulturen verbunden, sondern kann sich in spezifischen sozialen Kontexten auch neu entwickeln, etwa in Slums, Ghettos, manchen Großstadtbezirken, Konfliktregionen oder in der organisierten Kriminalität: Alle Formen von organisiertem Verbrechen beziehen ihre Effizienz wesentlich aus Ehrenvorstellungen; damit verbunden sind ein Ehrenkodex, Gruppenloyalität, starkes Zugehörigkeitsgefühl, Vertrauen, Autorität, Selbstjustiz, individuelle Opferbereitschaft und soziale Gefälligkeiten.

Ehre und Religion

Ehre bedarf der Religion nicht unbedingt, ist aber oft eng mit ihr verbunden. Ehrenvorstellungen benötigen starke Identifikationen mit der jeweiligen Gruppe und dazu heilige, unantastbare Werte, die es um jeden Preis zu verteidigen gilt. Religionen können diese Werte bekräftigen und unterstützen, indem sie etwa die Loyalität gegenüber der Familie oder die Wahrung der Jungfräulichkeit sakralisieren. Die islamische Hadith-Literatur unterstützt und legitimiert zum Beispiel den Ehrbegriff, indem sie Bedeutung und Achtung der Ehre immer wieder betont; der Ehrenkodex der japanischen Samurai stand in enger Beziehung zum Zen-Buddhismus. Religionen können auch selbst zu einer honor group werden, indem sie Ehre an die Religionszugehörigkeit binden und nur Angehörigen der eigenen Religion Ehre zusprechen. Religionen können spezifische Praktiken von Ehrenkulturen religiös aufladen und legitimieren aber auch dagegen Widerstand leisten. Sehr oft sind Ehrenvorstellungen regional jedoch so stark verankert, dass sich im Zweifelsfall das ehrenbasierte Gewohnheitsrecht gegenüber dem religiösen Recht durchsetzt oder das religiöse Recht das Gewohnheitsrecht integriert und mit den religiösen Normen in Einklang bringt.

Das Christentum hat sich mit dem heroischen Ehrenmodell immer schwergetan, nahm es jedoch als soziale Realität hin. Die vor allem im Mittelalter populäre Lösung war es, Ehre zu akzeptieren, sie aber durch "sanfte" Tugenden wie Frömmigkeit, Milde, Güte, Treue oder Maßhalten zu zivilisieren. Diese Mischung aus Kampfkraft und Sanftheit prägt bis heute die Idealvorstellung des ritterlichen Helden, auch wenn sie schon damals mehr Ideal als soziale Realität war. Indirekt hat das Christentum jedoch sehr wohl zur Transformation traditioneller Ehrkonzepte beigetragen: Das Verbot der Polygamie und eine vergleichsweise strenge Handhabung von Verwandtschaftsehen haben in Europa die Ausbildung von Clans, Großfamilien und Stämmen über die Jahrhunderte zunehmend eingeschränkt. Zum Bezugssystem europäischer Ehrvorstellungen wurde primär der soziale Stand und nicht der Familienclan, wodurch das System flexibler wurde. Ausnahmen bestätigen die Regel, der Adelsstand hat seine Ehre stets durch Verwandtschaftsehen abgesichert, für den Mittelmeerraum (Süditalien, Südspanien) lassen sich auch robustere Clanstrukturen feststellen; gerade hier war es von Seiten der Kirche üblich, auch der normalen Bevölkerung Ausnahmeerlaubnisse für Verwandtschaftsehen (meist zwischen Cousin und Cousine) zu erteilen.

Ehre heute

Das Gewaltmonopol des Staates, die Individualisierung, das Ideal persönlicher Freiheit, der Würdebegriff der Aufklärung und die Verinnerlichung von Ehre zu Anstand oder Integrität haben tradionelle Ehrenvorstellungen in Europa zu einem sozialen Relikt gemacht; der Gebrauch des Begriffs Ehre in der NS-Zeit hat ihn dann endgültig moralisch desavouiert. In dem Maße, in dem die oben angeführten Faktoren erodieren, können Ehrenkonzepte aber durchaus auch ein Comeback erfahren, zumindest in spezifischen sozialen Subsystemen, auch religiös unterstützt. Als eine mögliche Form sozialer Organisation bleibt die Bedeutung der Ehre ungebrochen, so unverständlich dieses Denken heute auch erscheint. (Christian Feichtinger, 10.7.2019)

Christian Feichtinger studierte Katholische Religion, Religionswissenschaft und Angewandte Ethik und ist Assistent am Institut für Katechetik und Religionspädagogik an der Universität Graz.

Literaturhinweise

  • Burkhart, D. (2006): Eine Geschichte der Ehre. – Darmstadt.
  • Nisbett R. E./Cohen D. (1996): Culture of Honor. The Psychology of Violence in the South. – Boulder.
  • Stewart, F. H. (1994): Honor. – Chicago.
  • Vogt, L. (1997): Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Differenzierung, Macht, Integration. – Frankfurt.

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