Seit vielen Jahren galt die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als die Nachwuchshoffnung der CDU. Sollte Angela Merkel einmal abtreten, so könnte sie in deren Fußstapfen treten, als Regierungschefin ihr Land zu führen. Dazu kam es nie. Von der Leyen schien nach Ämtern auch als Arbeitsministerin und Familienministerin den Zenit erreicht zu haben.

Bis Montagabend. Die Staats- und Regierungschefs hatten ihre Beratungen über die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident und weitere Topjobs zu Mittag gerade unterbrochen. Das von Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron beim G20-Treffen in Japan ausgehandelte "EU-Personalpaket" war zerrissen worden. Nicht nur vier Visegrád-Staaten Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei, auch Italien und mehrere christdemokratische Premierminister empfanden es als Zumutung, dass der SP-Spitzenkandidat Frans Timmermans neuer Chef der Kommission werden sollte – statt Manfred Weber, dem Wahlsieger und EVP-Spitzenkandidaten. Er war als künftiger Präsident des Europäischen Parlaments vorgesehen.

Die deutsche Verteidigungsministerin von der Leyen soll neue EU-Kommissionspräsidentin werden.
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Der Ständige Ratspräsident Donald Tusk brach den Gipfel ab, weil 18 Stunden zähen Ringens keinen Durchbruch gebracht hatten. Man vereinbarte, sich tags darauf wieder zu treffen. Einige Regierungschefs blieben in der Stadt, andere flogen kurz nach Hause – dann kam der Moment, in dem von der Leyens Stunde schlug.

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Ausgehend von Merkel und Macron setzte sofort ein neues Krisenmanagement ein, um die Blamage zu vermeiden, dass man dem Parlament am Dienstag bei dessen Konstituierung keine Vorschläge präsentieren kann. Präsident und die Kanzlerin kontaktierten den ungarischen Premier Viktor Orbán, den härtesten Widersacher von Weber in der Parteifamilie der Christdemokraten; und auch von Timmermans, der als Vizepräsident der Kommission für Grundrechte zuständig ist und den Konflikt mit Polen und Ungarn austragen muss. Macron brachte den Vorschlag ein, dass doch ein Vertreter der EVP Kommissionchef werden könnte, um den Weg zu einer Gesamtlösung freizumachen. Da Weber bereits beim EU-Gipfel Ende Juni aus dem Spiel genommen worden war, war klar, dass ein neuer Name auf den Tisch musste.

Die österreichische Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein hat bereits vor dem EU-Gipfel angekündigt, dem Vorschlag, Ursula Von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin zu ernennen, zustimmen zu wollen.
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Orbán zeigte sich offen für die von Macron präsentierte Idee, dass man mit von der Leyen, die in Brüssel auf die Welt kam und perfekt Französisch und Englisch spricht, eine würdige Kandidatin haben könnte. Er erklärte sich bereit, die Visegrád-Partner, aber auch die italienische Regierung und deren Innenminister Matteo Salvini, zu überzeugen, wie dem STANDARD bestätigt wurde.

Dealmaker Orbán

Merkel übernahm die Aufgabe, die Partei- und Regierungschefs der Christdemokraten (EVP) durchzutelefonieren. Kurz vor Mitternacht zeichnete sich ab, dass der Coup funktionieren könnte. Nicht nur die EVP-Granden waren einverstanden. Auch die Liberalen – angeführt vom Niederländer Mark Rutte und Xavier Bettel aus Luxemburg – erwärmten sich für die Idee: Ihnen wurde zugesagt, dass der belgische Premier Charles Michel Donald Tusk als Ratspräsident ersetzen solle. Macron wiederum, der mit den Liberalen kooperiert, ließ sich von Merkel zusichern, dass die derzeitige Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, im Herbst statt Mario Draghi an die Spitze der Euro-Zentralbank rücken kann. Spaniens Premier, der Verhandlungsführer der Sozialdemokraten, sicherte sich den Posten des Hohen EU-Beauftragten für seinen Außenminister Josep Borell. Das Amt des Parlamentspräsidenten sollte zwischen EVP und SP aufgeteilt werden.

Birgit Schwarz in Berlin und Raffaela Schaidreiter in Brüssel kommentieren die Neukonstellation der EU-Führungsspitze.
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Damit war ein neues Paket geschnürt. Die Fortsetzung des Gipfels zu Mittag verzögerte sich bis zum späten Nachmittag wegen bilateraler Vorgespräche, um den nächtlichen Coup abzusichern.

Schwierige Mehrheitsfindung im Parlament

In Brüssel ging es am Dienstag aber dennoch ganz schnell. Tusk startete den Gipfel, präsentierte die Vorschläge – erstmals mit einer Frau im höchsten Amt der EU. Alle Regierungschefs stimmten zu. Nur Merkel durfte nicht: Der Koalitionspartner SPD untersagte ihr das in Berlin, die Kanzlerin enthielt sich der Stimme. im Laufe des Mittwochs betonten auch die baltischen Staaten ihre Unterstützung für Von der Layen.

Im EU-Parlament zeigten sich Abgeordnete düpiert vom Begräbnis für die Spitzenkandidaten, vor allem die deutschen Sozialdemokraten drohten, gegen von der Leyen zu stimmen. Auch die Grünen sind derzeit noch nicht bereit, von der Leyen zu unterstützen. "Ich sehe noch keinen Grund, warum wir diesem Deal zustimmen sollten", sagte die Vorsitzende der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, am Dienstag im ZDF-"Morgenmagazin". Sie kritisierte die Aufgabe des Spitzenkandidatenmodells als einen der "alten Deals, wo der Rat einfach jemanden aus der Schublade rausholt, den vorher noch nie jemand gesehen hat im Wahlkampf."

Die Wahl könnte in der Woche ab dem 15. Juli über die Bühne gehen. Sollte das Europaparlament von der Leyen nicht wählen, müsste der Rat der Staats- und Regierungschefs einen neuen Vorschlag unterbreiten. (Thomas Mayer aus Brüssel, 2.7.2019)