Der letzte bewusste Blick des Greises gilt dem wie unbewegt daliegenden Meer. Mit verdrossener Miene entzündet der Bistro-Besitzer Maurice (Fred Ulysse) eine Zigarette, ehe ihn der Schlaganfall aus heiterem Himmel trifft.

epd Film

Nur die soeben entzündete Zigarette kokelt weiter. Verschämt, geradezu diskret kehrt die Kamera ihr Auge ab. Eben noch konnte sie sich nicht sattsehen an der mediterranen Herrlichkeit, die der Bucht von Méjean, unweit von Marseille, die Qualität einer Exklave verleiht. Die ist voller Ölbäume, Molen und Fischerboote. Sie liegt obendrein zwischen Felsen von belebender Röte und steht unter der Obhut eines Viadukts, über das ab und zu ein Fernzug rattert. Das wahre Leben entfaltet seine ordnende Kraft hier, im kühlenden Schatten der Moderne.

Und so birgt der Schauplatz von Robert Guédiguians neuem Film "Das Haus am Meer" manche Eigenschaften eines "heterotopischen" Ortes. Vor solchen herausgehobenen Plätzen pflegen Anwendungsregeln einer auf Sachzweck und Nutzen gerichteten Logik zu versagen. Nicht Maurices Schlaganfall bildet den Skandal. Es ist die biologische Fortdauer seines Lebens, die seine pflichtschuldig herbeigeeilten Kinder verunsichert und vor den Kopf schlägt.

Maurice befindet sich so weit wohl, aber sein Bewusstsein ist unwiederbringlich erloschen. Sein leerer Blick scheint den Horizont des Mittelmeers neu abzutasten, auf der unbewussten Suche nach einem Anhaltspunkt. Es geht in Guédiguians Film um den einen entscheidenden Fehler. Die verpasste Chance, die fallengelassene Masche in der unsichtbaren Webstruktur von Meer und Welt.

Kleine große Schauspieler

Maurices von ihm selbst errichteter Balkon schmückt sein Haus wie eine "Brosche". Und vor dieser herrlichen, sonnenüberfluteten Loge wirkt selbst seine vergötterte Tochter Angéle (Ariane Ascaride), eine imposante Theaterschauspielerin im Herbst ihrer Karriere, erstaunlich mickrig. Klein sei sie, vermerkt eine Stimme. "Das ist bei Schauspielern oft so!", lautet die knappe Antwort aus dem Off.

Der Kollaps des Vaters hat sie am Bistrotisch zusammengeführt: Theaterschauspielerin Angéle (Ariane Ascaride, 2. v. li.) und die anderen Helden aus dem Schattenreich der Moderne.
Foto: Filmverleih Filmladen

Guédiguians Figuren scheinen tatsächlich zu Schauspielern ihrer selbst geworden. Da ist der ungemein beredte Zyniker und Gewerkschafter Joseph (Jean-Pierre Darroussin), der eine viel zu junge Schönheit (Anaïs Demoustier) an seiner Seite hat, als dass ihrer beider Beziehung jemals von Bestand sein könnte.

Sein Bruder Armand (Gérard Meylan) hingegen führt Papas Bistro trotzig schmollend weiter. Er ist als beherzter Amateur, der Nudeln gart und die Oktopoden vor der Haustür am Riff kleben hat, das Inbild des souveränen Menschen.

Therapie ohne Arznei

Als solche setzen sich die ungemein liebevoll gezeichneten Figuren gegen den neoliberalen Drill, der da draußen, irgendwo hinter Marseille, die Welt im Würgegriff hält, erfolgreich zur Wehr. Es ist aber nicht die Welt draußen, die hinter die steinernen Wehre der Bucht verbannt bleibt. Es ist die Substanz des Lebens selbst, die irgendwo zwischen eigenen Ansprüchen und halbbewussten Intuitionen spurlos versickert.

Angéle hat vor Jahren ihr kleines Töchterchen im Wasser des Hafenbeckens verloren. Ihre Untröstlichkeit wird auch nicht dadurch behoben, dass der Fischer des Ortes ihr – mit überschäumender Liebe zum Theaterhandwerk – den Hof macht.

Der Theaterkünstler Guédiguian besitzt die staunende, ärztliche Fürsorge eines Doktor Tschechow. Er verfügt über keine Arzneien, die schlagartig Linderung verschaffen würden. Aber er zitiert in spärlichen Rückblicken die (ehemals) überschäumende Lebensfreude seiner Protagonisten. Die als Jugendliche ins Wasser hüpfen, während Bob Dylan sein augenzwinkerndes I Want You nuschelt. Und die 40, 50 Jahre später den Regierungssoldaten, die nach illegalen Einwanderern fahnden, mit unverhohlener Verdrossenheit begegnen.

Die verstohlene Ankunft von Flüchtlingskindern erfrischt und revitalisiert das humane Gewissen dieser aufs Abstellgleis geschobenen Gesellschaft. Solidarisches Handeln ist auch ohne öffentlichen Auftrag möglich. Und so sieht man zum Schluss die Kinder des erloschen Königs von Méjean, wie sie unter den steinernen Stelzen des Viadukts stehen und ihre Namen krähen. Und die Flüchtlingskinder, aus der Agonie der Not erwachend, stimmen mit ihnen ein in diesen improvisierten Chor der Selbstbehauptung – voller Zuversicht. Das würdige Ende eines meisterhaften Films. (Ronald Pohl, 4.7.2019)