Es geht auch um den Massensuizid von 47 Samuraikriegern: Das Tokyo Ballet erzählt die Geschichte hervorragend zur vom Band kommenden Musik von Toshiro Mayuzumi

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Die Begeisterung der Europäer für das "Exotische" hat eine lange Tradition. Seit jeher wirkt sie zugleich vereinnahmend und naiv. Mit Kritik an diesem Exotismus hatte der französische Choreograf Maurice Béjart (1927-2007) keine Berührung gehabt, als er 1986 in Japan sein aufwendiges neoklassisches Stück The Kabuki schuf. Jetzt wird dieses Werk als Gastspiel des Tokyo Ballet an der Wiener Staatsoper gezeigt.

Das Libretto ist einigermaßen komplex. Béjart bearbeitete die in Japan überaus bekannte Kabuki-Version eines elfaktigen Bunraku-Puppenspiels mit dem Titel Kanadehon Chushingura von 1748. Im Original geht es um eine wahre Begebenheit, die in einem Seppuku-Massensuizid von 47 Samuraikriegern gipfelte, die zuvor den Tod ihres Daimyo, ihres Fürsten, gerächt hatten. Der Vorfall erregte in Japan großes Aufsehen.

Herrenlose Krieger

Bereits zwei Wochen nach dem Gemeinschafts-Seppuku im Jahr 1703 kam das erste Stück darüber heraus. Die Geschichte ist bis heute so populär, dass die 47 Ronin - herrenlose Samurai werden Ronin genannt – auch im Westen zum Filmstoff wurden. Zuletzt war dies 2013 unter der Regie von Carl Rinsch der Fall. Keanu Reeves war dabei wie auch der weltweit bekannten Butoh-Tänzer Min Tanaka in der Rolle des zu Tode gekommenen Fürsten Asano.

Min Tanaka hatte im Jahr vor Maurice Béjarts The Kabuki-Uraufführung die Body Weather Farm gegründet, ein äußerst einflussreiches Workshop-Zentrum, das in den 1980ern von vielen westlichen, auch österreichischen, Tänzern frequentiert wurde. Doch auf den radikalen Butoh-Tanz wollte sich der französische Meister nicht einlassen. Lieber verschränkte er Elemente aus Bunraku und Kabuki mit seinem weichen, virtuosen Ballettstil.

Außerdem fügte der Choreograf einen Prolog hinzu, der Kanadehon Chushingura mit dem modernen Japan verbindet. Also tanzt zu Beginn von The Kabuki eine Tokioter Jugendgang vor riesigen, flimmernden Werbescreens. Die Gruppe wird, sobald ein Mitglied ein altes Schwert berührt, in die Vergangenheit versetzt. Damit unterstreicht Béjart den großen Einfluss, den die vormoderne japanische Kultur auf Nippons Gegenwart ausübt. Japan gilt als ausgesprochen ballettaffines Land, was den anhaltenden Erfolg von The Kabuki mit seinen bisher 200 Aufführungen erklärt.

Relativierte Nationalismen

Die tragisch-heroische Handlung ist ein Fest aus Spielen um Macht, Ehre, Intrige, Rache und Erotik. Es ist also ein herrlicher Stoff zur üppig kostümierten Befragung – und Bestätigung – japanischer kultureller Identität im Tanz mit westlicher Ästhetik: Während einer Schlüsselszene wird die Sonnenflagge groß auf die Bühne projiziert.

Im Subtext ist ein großer Enthusiasmus für die Verschränkung japanischer und europäischer Kunsttraditionen zu erkennen. Das erinnert an den Fortschrittsgedanken der Eighties: die Freude daran, kulturelle Unterschiede spielerisch zu verbinden und so Nationalismen zu relativieren.

In diesem Sinn setzt das Tokyo Ballet seinen Béjart hervorragend um – zur vom Band gespielten Musik von Toshiro Mayuzumi in vielköpfiger Besetzung mit beeindruckenden Tänzern wie Dan Tsukamoto und überzeugenden Ballerinen wie Mizuka Ueno.

Von Frau erfunden

Zur Geschichte des Kabuki gehört übrigens, dass diese Form gegen 1603 in Kioto von einer Frau erfunden wurde: Izumo no Okuni. Anfangs gab es nur Darstellerinnen. Für Béjart spielte das noch keine Rolle. Für eine Interpretation von heute aber wäre diese historische Tatsache wohl ein wichtiger Einfluss. (Helmut Ploebst, 3.7.2019)