Ein Stück wie vom Reißbrett mit Szenen wie aus einem Groschenroman: Arthur Schnitzlers Der Ruf des Lebens wird bei den Festspielen in Reichenau gegeben.

Foto: Dimo Dimov /Festspiele Reichenau

Eine Nacht, mehr ist Marie nicht vergönnt, um in das Leben so richtig einzutauchen. Doch auch in dieser Nacht liegen "Seeligkeit und Verzweiflung" nah beieinander. Erst ertappt sie den von ihr geliebten Offizier mit der Frau des Oberst, dann verbringt sie die Nacht mit ihm. Dazwischen springt der Oberst beim Fenster herein und erschießt seine Frau. Auch davon wird Marie Zeuge.

Der Ruf des Lebens heißt das kaum gespielte Schnitzler-Stück, das sich in manchen Szenen wie ein Dreigroschenroman liest. Der Aufbau wie auf dem Reißbrett entstanden, die Charaktere schablonenhaft. Das eine Mädel, Katharina, "versündigt" sich und stirbt an Schwindsucht. Die andere, Marie, wird von ihrem kranken und despotischen Vater wie eine Leibeigene gehalten und vergiftet ihn in einem Akt der Notwehr. Glück findet auch sie nicht.

Warum man bei den Festspielen Reichenau ausgerechnet dieses 1906 entstandene Stück ausgegraben hat, ist schwer zu sagen. Von den fein ziselierten Schnitzlerschen Charakterstudien fehlt jede Spur, die Kritik am Militarismus geht heute ins Leere.

Keine Vorzeigesoldaten

Beinahe alle männlichen Figuren waren oder sind Teil des kaiserlichen Heeres. Der tyrannische Vater hat schon vor dreißig Jahren die Ehre der blauen Kürassiere befleckt; die jetzigen Vertreter des Regiments sind alles andere als Vorzeigesoldaten. Als wäre der Schmach damit nicht genug, lässt Schnitzler die gesamte Kompagnie in den Tod marschieren. Nur einer überlebt. Er bringt sich selbst um.

Fertiggestellt wurde das Stück weiland in Reichenau an der Rax, und vielleicht liegt in dieser nostalgischen Note einer der Gründe, warum das Stück auf den Spielplan gehievt wurde. In der Sommerfrische taucht es sich besonders gut in eine Welt von Gestern ein. Regisseur Helmut Wiesner tut jedenfalls alles dafür, dass sich in den über zweistündigen Abend kein heutiger Ton mischt – und kein Jahrhundertwende-Klischee übersehen wird.

Die Macht der Stereotype

Katharina ist ein süßes Mädel im weißen Kleid und wird von Alina Fritsch tänzelnd und mit offenem Haar gegeben. Marie als ihr struktureller Gegenpart ist dagegen eine Mischung aus Maria aus Sound of Music und Florence Nightingale. Leiden ist ihr zweiter Vorname, und Schauspielerin Johanna Prosl weiß diesen Part gut auszufüllen. Seminaristen auf der Suche nach toxischen Geschlechterzuschreibungen können bei den beiden Figuren aus dem Vollen schöpfen.

Wobei: Auch die Männerrollen sind gute Beispiele für die Macht von Stereotypen. Der junge Offizier als heißer Liebhaber (David Jakob) wird flankiert vom gutmütigen Förster (Dominik Raneburger) und dem cholerischen Alten. Mit Decke und zersausten Haaren thront Toni Slama im Ohrensessel und spielt genussvoll den bösen Kranken. Am Ende des ersten Aktes wird er tot am Boden liegen. Zum Leben erwacht der Abend aber auch später nimmermehr. (Stephan Hilpold, 5.7.2019)