Ein vermutetes Umerziehungslager im Nordwesten der Unruheprovinz Xinjiang.

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Adrian Zenz durchforstet Dokumente über die Lager. Seinen Schätzungen zufolge befinden sich bis zu 1,5 Millionen Menschen in Umerziehungslagern.

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Die Videos, die aus den "Vocational Training Centers" in Xinjiang an die Öffentlichkeit gelangen, zeigen erwachsene Menschen, die gemeinsam in Kostümen tanzen, Reime aufsagen und ähnliche Stehsätze in die Kamera sagen wie: "Ich war von Extremismus und Terrorismus beeinflusst." Hier sollen die Gedanken nun "transformiert werden". Während China lange abstritt, dass es solche Lager überhaupt gibt, dürfen seit einigen Wochen erste Journalisten die "Ausbildungszentren" besuchen. Bis zu 1,5 Millionen von circa zehn Millionen in Xinjiang lebenden Uiguren sollen in 1200 Lagern dieser Art festgehalten werden, und zwar ohne Anklage, sondern um präventiv gegen Terrorismus und Extremismus vorzugehen.

"Es ist wie eine groteske Zooveranstaltung", kommentiert der Forscher Adrian Zenz die Videos. Er arbeitet seit Jahren von Stuttgart aus offizielle Regierungsdokumente auf, um die Existenz der Lager und deren Umfang zu dokumentieren. Und die zeichnen ein anderes Bild als die bunten TV-Videos. In den Dokumenten, meint Zenz, wird ganz offen von "Gehirnwäsche" gesprochen. Die Menschen, die dort leben, werden als "interniert für die Umerziehung" bezeichnet. Eine gigantische Zahl von Sicherheitskräften sei für die Bewachung der Lager abgestellt. "Und wenn Kamerateams zu Lagern gehen, die nicht für den Besuch hergerichtet sind, sieht man Stacheldraht und Wachtürme."

Repressionen und Diskriminierung

Am 5. Juli 2009, also genau vor zehn Jahren, kam es zu blutigen Protesten in der Hauptstadt Urumqi. Die muslimische Minderheit der Uiguren fordert seit Jahrzehnten mehr Freiheit und klagt über Repressionen und Diskriminierung. Die Regierung reagierte mit Härte auf die Ausschreitungen, die etliche Dutzend Tote forderten. Vor allem uigurische Terrorattacken in Peking 2013 und Kunming 2014 haben die Regierung auf den Plan gerufen. "Die Uiguren haben zunehmend blutige Anschläge verursacht. Das Neue ist aber, dass man nun präventiv einen Großteil der Bevölkerung einfach interniert und alle unter Generalverdacht stellt. Was dem Extremismus massiven Vorschub geben könnte – und vermutlich tut", erklärt Zenz.

Begonnen haben die Internierungen 2017, ab 2018 wurden die Lager ausgebaut, sodass auch neue Bevölkerungsschichten, besonders Intellektuelle, interniert wurden. "Wir können aber davon ausgehen, dass der Zenit erreicht worden ist. Einige Menschen werden mittlerweile entlassen, allerdings in eine Art Hausarrest oder Zwangsarbeit", sagt Zenz. Seine Schätzung von 1,5 Millionen Internierten basiert auf Budgetdaten für Essen. Ob die Zahl tatsächlich erreicht wurde, ist unklar.

Testlabor Xinjiang

Dass die internationale Gemeinschaft keine deutlicheren Worte findet, insbesondere die Uno, sieht Zenz als "Armutszeugnis". Und als Erfolg Chinas, das eine geschickte Hintertür-Diplomatie von Bedrohungen und Versprechungen führe. Zusätzlich zu den Lagern wurden in den vergangenen Monaten biometrische Daten der gesamten Bevölkerung Xinjiangs gesammelt. "In Xinjiang wird am Menschen in einer Art und Weise getestet, wie man sonst nirgendwo in der Welt, außer vielleicht in Nordkorea, testen kann", sagt Zenz. In Zukunft könnte das auf ganz China ausgeweitet werden. "Vielleicht nicht so offensiv, sondern versteckter, subtiler."

Kinder von Eltern getrennt

Wie ein Bericht der BBC zeigt, werden durch die Internierung außerdem hunderte Kinder von ihren Eltern getrennt. Nicht nur würden demnach Kinder ohne zumindest einem Elternteil aufwachsen. Es soll auch ein wachsende Zahl von Internaten geben, in die die Kinder geschickt werden. (Anna Sawerthal, 5.7.2019)