Die "Kinder" Ilse Melamid, Mark Burin, Ralph Mollerick und Eva Yachnes (von links) vor dem Schoah-Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz. Unten: Ein Brief aus meinem Besitz vermittelt einen Eindruck, wovor die Juden und Jüdinnen nach dem "Anschluss" aus Wien flohen – wenn sie nur konnten.

foto: Regine Hendrich

Wien – Der Abend ist lau, die Tischgesellschaft in dem von bunten Lampen erleuchteten Gastgarten unterhält sich angeregt. Zwischen Lachen, Besteckklappern und dem Knirschen von Schritten auf dem Kies dreht sich das Gespräch um das Essen und das Wetter, um die Vorwahlen zur US-Präsidentschaft – und um das Besuchsprogramm des nächsten Tages. Hier sitzen Briten und Amerikaner, und sie sind in Wien – in einer satten, reichen und großzügigen Stadt.

Eine der Anwesenden hat Wien jedoch in ganz anderer Erinnerung. Ilse Melamid, 90 Jahre alt, musste die Stadt als Elfjährige verlassen – und gleichzeitig ihren Vater, ihre Mutter und ihre Schwester. Nur den Vater sollte sie je wiedersehen, denn Mutter und Schwester wurden im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, weil sie Juden waren.

23 Rettungsfahrten aus Wien

Mit einem Kindertransport verließ Melamid Wien – mit einer von insgesamt 23 Rettungsfahrten für unter 18-jährige jüdische Kinder von Wien nach London. Juden, Quäker und Christen verschiedener Glaubensbekenntnisse hatten der nationalsozialistischen Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien und ihren Leitern Adolf Eichmann und Alois Brunner die Fahrten gegen Geld abgerungen.

Die Aktion endete mit dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939. Insgesamt gelang es dem sogenannten Refugee Children Movement, rund 10.000 Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen, der freien Stadt Danzig und der Tschechoslowakei zu retten.

Hilflose Eltern

Den Kindern ermöglichten die Transporte zu überleben. Dazu mussten sich die Eltern von ihnen trennen, doch das nahmen sie auf sich, um den Nachwuchs zu schützen – obwohl zwischen Aufruf und Abfahrt vielfach nur ein oder zwei Tage lagen.

Die Eltern selbst waren hilflos: Ihre Chancen auf Ausreise waren gering, und Asyl in anderen Staaten gab es damals noch nicht: Die entsprechenden völkerrechtlichen Bestimmungen wurden – unter dem Eindruck des Holocaust – erst nach Niederringen des Nationalsozialismus beschlossen.

Die Kindertransportkinder und ihre Eltern zu ehren – das ist die Absicht von Melissa Hacker, einer Filmemacherin aus New York. Selbst Tochter einer ehemaligen Wienerin, die sich durch die Evakuierungsaktion dem Zugriff der Nationalsozialisten entziehen konnte, hat sie eine Gruppenreise organisiert: Der erste derartige Job in ihrem Leben, wie sie sagt.

"Bedeutungsvolle Reise"

Ausgeführt hat sie ihn im Namen der internationalen Kindertransport Association, die Holocaustüberlebende und ihre Nachfahren vereint. Sie ist deren Präsidentin.

Nun sitzt Hacker im Halbdunkel des Wiener Gastgartens der Tafel vor, verteilt praktische Tipps und erinnert an das Besuchsprogramm des nächsten Tages. Im Hotel werde sie sich um US-Fernsehprogramm in allen Zimmern bemühen und, bitte, alle Mitreisenden sollten versuchen, Verspätungen im Besichtigungsablauf zu vermeiden. 18 Personen, unter ihnen vier ehemalige "Kinder", sind mit ihr zusammen nach Europa gekommen, um eine – wie sie es ausdrückt – "besondere, bedeutungsvolle und sinnreiche" Reise zu erleben.

14 Tage Nonstop-Programm

Entsprechend hoch sind die Vorgaben der Tour, die von einer Vielzahl Sponsoren unterstützt und in Wien vom Jewish Welcome Service begleitet wurde: 14 Tage Nonstop-Kindertransport-Erinnerungsprogramm, von Wien über Berlin nach Amsterdam, dann über die Häfen Hook und Harwich nach London.

Damit folgt die Gruppe den Wegen, die 1938 und 1939 die Kinder nahmen – entwurzelt, aber unterwegs in Richtung Freiheit, verängstigt und aufgeregt, jedes mit nur einem einzigen kleinen Koffer. Mehr Gepäck ließen die nationalsozialistischen Auswanderungsbürokraten nicht zu.

Erinnerungsorte und Empfänge

In jeder Stadt werden Orte besucht, die an das damalige Schicksal der Jüdinnen und Juden erinnern, vom Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah auf dem Wiener Judenplatz über das Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin, wo die Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden in Europa planten, zur Londoner Liverpool Street Station, wo die Kindertransporte vom Kontinent ankamen.

Dazu kommen Empfänge, etwa im Deutschen Bundestag, im britischen Unterhaus sowie in der österreichischen Botschaft in Den Haag.

"Die 'Kinder' sind stark"

"Könnte diese Programmwucht die ehemaligen 'Kinder' psychisch nicht überfordern?", frage ich Hacker. Immerhin seien die damals Entkommenen inzwischen in ihren Achtzigern oder Neunzigern, und die Konfrontation mit den Umständen ihrer in vielen Fällen traumatisierenden Erlebnisse könnte alte Wunden aufbrechen.

"Belastend ist es schon", antwortet die Organisatorin. Aber nicht überlastend. Die Angst, Holocaustüberlebenden durch die Auseinandersetzung mit den Erlebnissen von damals zu viel aufzubürden, gehe vor allem in den nachfolgenden Generationen um. Vielmehr gelte: "Die 'Kinder' sind stark. Sie haben in ihrem Leben weit Schlimmeres erlebt."

Furcht vor der "ansässigen Bevölkerung"

Tatsächlich befand sich etwa die einstige Wienerin Ilse Melamid – damals hieß sie Hönigsberg – 1938 in ihrer Heimatstadt in akuter Gefahr. Die Nationalsozialisten waren an der Macht, Juden und Jüdinnen waren vogelfrei. "Man konnte nicht auf die Straße gehen, ohne Furcht zu haben. Furcht vor der ansässigen Bevölkerung, von der ein absolutes Sicherheitsrisiko ausging. Die sich als absolut vertrauensunwürdig erwiesen hatte", sagt die Frau, die in den USA später als Migrationsforscherin Karriere machte, in einem Video.

Ursache dieser "Vertrauensunwürdigkeit" war der mörderische Antisemitismus, der sich nach dem "Anschluss" am 12. März 1938 in Wien Bahn brach. In den Köpfen vieler Österreicher war er offenbar schon lange verankert gewesen. Die nationalsozialistische Propaganda hatte ihn weiter verstärkt.

Mein persönlicher Bezug

Ich selbst habe zu diesen Ereignissen einen persönlichen Bezug. Mein Vater, damals knapp über 20 Jahre alt, entkam 1939 aus Österreich. Meine Großmutter hatte eine Einreiseerlaubnis nach England für ihn erwirken können. Sie selbst wurde nach Minsk deportiert und dort ermordet.

Ich besitze einen dreiseitigen, bislang unveröffentlichten Brief, der das Ausmaß der Verfolgungen dokumentiert (siehe Faksimile von dessen erster Seite). Es stammt aus der Hand eines Verwandten meines Vaters und ist an dessen Bruder gerichtet, der im sicheren Ausland lebte.

"Ohne jedweden Grund werden Juden in den Gassen und Kaffeehäusern, ja selbst in den Wohnungen massenhaft verhaftet, aus dem einzigen Grund, weil sie eben Juden sind", heißt es etwa auf den hinteren Seiten. "Die jüdischen Mietwohnungen werden in der Weise geräumt, indem die Möbel auf die Straße gestellt werden u. das Gesindel schleppt weg, was es will."

"Trachten, ins Ausland zu gelangen"

Der Schreiber ersucht meinen Onkel, sein "Möglichstes" für die "jungen Leute" der Familie zu tun. Diese würden "fieberhaft danach trachten, ins Ausland gelangen zu können".

Als mein Vater 1947 aus der Emigration zurückkam, fand er niemanden aus der Familie mehr vor. Bis auf eine Handvoll Personen waren alle getötet worden. Er kehrte in ein Land zurück, in dem man verleugnete, dass die Gräuel geschehen war – oder wo man behauptete, nicht dabei gewesen zu sein.

"Waldheims Walzer"

Auch diesem Phänomen widmete sich die Kindertransportgruppe in Wien. Im Filmmuseum sahen sie sich Waldheims Walzer von Ruth Beckermann an. Danach, im Gastgarten, animierte die Dokumentation über das Wiederhochkommen des Verdrängten in der Gestalt eines nationalsozialistisch belasteten Karrierepolitikers in den 1980er-Jahren – und der Proteste dagegen – zu Vergleichen.

Ob sie Ähnlichkeiten zur Jetztzeit erkennen würden, frage ich Rachel und Norman* – sie ist Tochter eines "Kindes" – aus Los Angeles. "Natürlich", antworten die beiden wie mit einer Stimme. Die durch Waldheim sichtbar gewordene Spaltung der Gesellschaft in Österreich erinnere sie an "den Effekt, den Trump in den USA hat". (Irene Brickner, 6.7.2019)