Wie hoch ist eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer armen Familie in Österreich bis zum Erwachsenenalter reich wird? Würden Sie sich zutrauen, eine Schätzung abzugeben? Und wie verhält es sich umgekehrt? Wie stehen die Chancen, dass ein Kind aus einer reichen Familie später Armut zu befürchten hat?

Man könnte sich nun zunächst fragen, warum in einem wissenschaftlichen Blog gerade subjektive Meinungen zur Durchlässigkeit eines Wirtschaftssystems Relevanz haben sollten. Es stellt sich allerdings heraus, dass es gute Gründe gibt, sich mit Wahrnehmungen – und in diesem speziellen Fall mit den Wahrnehmungen der Österreicherinnen und Österreicher – bezüglich der Funktionsweise unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Grundsätzlich treffen Menschen ihre Entscheidungen nämlich weniger auf Basis der objektiven äußeren Umstände ihrer Umwelt, sondern vielmehr so, wie sie diese wahrnehmen. Da sich individuelle Wahrnehmung und Realität gerade in Bezug auf wirtschaftspolitische Themen oft systematisch unterscheiden, hat man auch in der Volkswirtschaftslehre damit begonnen, sich intensiver mit diesen Wahrnehmungen auseinanderzusetzen.

Vorstellungen sozialer Mobilität

Es stellt sich heraus, dass einige Theorien zu menschlichem Verhalten plötzlich einen weitaus höheren Erklärungsgehalt aufweisen, wenn man statt objektiver Faktoren subjektive Eindrücke einbezieht. So können uns subjektive Wahrnehmungen beispielsweise dabei helfen, Wahlentscheidungen oder wirtschaftspolitische Präferenzen besser zu verstehen. Oder würden Sie einen starken Sozialstaat befürworten, wenn Sie davon überzeugt sind, dass in Österreich niemand darauf angewiesen ist? Und dass speziell die Wahrnehmungen von sozialer Mobilität mit der persönlichen Idealvorstellung von Sozialstaat und Steuersystem eng verwoben sind, ist spätestens seit der innovativen Studie "Intergenerational Mobility and Preferences for Redistribution" der Harvard-Ökonomen Alberto Alesina, Stefanie Stantcheva und Edoardo Teso in den Fokus der Wissenschaft gerückt.

Die Oberen und die Unteren: Wer arm geboren wird, bleibt arm, so die Wahrnehmung.
Foto: APA/AFP/MOHAMED EL-SHAHED

Bisher war dieses Forschungsfeld in Österreich allerdings weitestgehend unbeleuchtet. Neue Umfrageergebnisse helfen uns dabei, hier erstmals etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts wurden 1.161 Österreicherinnen und Österreicher gebeten, ihre Einschätzungen abzugeben: Wie viele von 100 Kindern aus den ärmsten 20 Prozent der österreichischen Haushalte bleiben später unter den ärmsten 20 Prozent? Und wie viele davon landen als Erwachsene in den oberen 20 Prozent der Einkommensverteilung? Ebenso erhoben wurde die Wahrnehmung der Abstiegsmobilität: Wie viele von 100 Kindern aus den reichsten Haushalten bleiben auch als Erwachsene reich und wie viele landen später unter den Ärmsten der Gesellschaft?

Wie in der Grafik unten dargestellt, glauben die Österreicher im Durchschnitt, dass von 100 armen Kindern knapp 37 auch als Erwachsene arm bleiben werden, während es etwa zehn Kinder in die Gruppe der reichsten Personen schaffen werden. In der Umfrage wurden übrigens nicht zwei, sondern fünf Einkommensgruppen abgefragt. Der Einfachheit halber sind allerdings nur die ärmste und die reichste Gruppe abgebildet, daher addieren sich die Zahlen nicht auf 100.

Bei den Reichen ist das anders

Bezüglich der Zukunftschancen von Kindern aus den reichsten Familien ergibt sich ein spiegelverkehrtes Bild. Im Durchschnitt wird angenommen, dass von 100 Kindern aus reichen Elternhäusern etwa 53 Kinder auch als Erwachsene zu den reichsten Haushalten zählen werden, während sich nur acht von 100 Kindern mit reichen Eltern als Erwachsene in der Gruppe der ärmsten Personen wiederfinden werden.

In der Wahrnehmung der Österreicherinnen und Österreicher macht es demnach durchaus auch heute noch einen großen Unterschied, ob ein Kind in eine arme oder eine reiche Familie geboren wird. Eine weitere durchgängig interessante Beobachtung ist, dass die Persistenz von Armut (die Wahrscheinlichkeit, als armes Kind später arm zu bleiben) weitaus geringer eingeschätzt wird als die Persistenz von Reichtum (die Wahrscheinlichkeit, als Kind eines reichen Elternhauses später reich zu bleiben).

Wahrnehmung und Realität

Im internationalen Vergleich zeigt sich Österreich damit übrigens relativ unauffällig. Die Vorstellungen von sozialer Mobilität sind ähnlich gestrickt wie jene der Bevölkerung in Frankreich, Großbritannien und Schweden. Im Vergleich zu tatsächlichen, objektiven Daten zu sozialer Mobilität zeigen sich europäische Länder hier tendenziell etwas pessimistischer als die Realität. Umgekehrt nehmen US-Amerikaner eher mehr soziale Mobilität wahr, als sich tatsächlich mit den beobachteten Fakten deckt. In Österreich wird im Moment daran gearbeitet, ebenso einen Datensatz zu tatsächlicher sozialer Mobilität zu erstellen. Zurzeit ist ein solcher direkter Vergleich zwischen Wahrnehmung und Realität aber leider noch nicht möglich.

Bezüglich tatsächlicher Zahlen zu sozialer Durchlässigkeit in Österreich existieren jedoch unter anderem einige Studien zum Bildungssystem, wobei sich Durchlässigkeit hier darauf bezieht, in welchem Ausmaß die Bildung der Eltern jene der Kinder bestimmt. Durch Vergleiche zwischen dem formalen Bildungsstand der Eltern und den Bildungsabschlüssen ihrer Kinder wird beispielsweise ermittelt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Kind eine Universität besucht, obwohl die Eltern bereits nach der Pflichtschule aus dem Bildungssystem ausgeschieden sind. Es dürfte hier bereits längst kein Geheimnis mehr sein, dass die Persistenz in Österreichs Bildungssystem eine der Spitzenpositionen innerhalb der OECD einnimmt.

Unterschied Parteien

Wenn wir noch einmal auf die Wahrnehmung von sozialer Mobilität zurückkommen, so zeigen sich markante Wahrnehmungsunterschiede zwischen verschiedenen Teilgruppen der Gesellschaft. Beeindruckend (und erwartungsgemäß) groß sind zum Beispiel die Differenzen zwischen Wählern von verschiedenen Parteien. Die Wählerinnen und Wähler von SPÖ, Liste Pilz und den Grünen haben recht pessimistische Vorstellungen davon, wie soziale Mobilität in Österreich ausgestaltet ist. Sie nehmen eine hohe Persistenz von Armut und Reichtum wahr. Umgekehrt verhält es sich mit deklarierten Nichtwählern und Wählern der ÖVP und der FPÖ: Diese Gruppen haben eine relativ optimistische Vorstellung von sozialer Mobilität und nehmen weitaus höhere Aufstiegs- und Abstiegsmöglichkeiten auf der sozialen Leiter Österreichs wahr.

Unterschied Bildungsgrad

Betrachtet man unterschiedliche formale Bildungsgruppen, so ergibt sich ein ähnlich heterogenes Bild. Kurz gefasst beobachten wir bei steigendem Bildungsgrad abnehmenden Optimismus in Bezug auf soziale Mobilität. Personen, die einen universitären Abschluss angeben, nehmen eine verhältnismäßig niedrige soziale Durchlässigkeit wahr. Hört man sich dagegen in Bevölkerungsgruppen mit maximal Pflichtschulabschluss um, steigt die wahrgenommene soziale Mobilität im Vergleich dazu stark an. Dazwischen liegen Lehrabschlüsse, BMS, AHS und BMHS.

Arm bleibt arm, reich bleibt reich?

So sehr sich die Ansichten der verschiedenen Gruppen über das genaue Ausmaß von sozialer Mobilität auch unterscheiden, lässt sich dennoch eine bemerkenswerte Übereinstimmung der Österreicherinnen und Österreicher in einigen Punkten feststellen. Quer durch die Bevölkerung geben Menschen an, dass es in ihrer Wahrnehmung für den weiteren Lebensweg einen großen Unterschied macht, ob man in eine arme oder in eine reiche Familie geboren wird. Kinder aus armen Familien bleiben demnach später eher arm, Kinder aus reichen Familien bleiben eher reich. Wenige Kinder aus armen Haushalten schaffen später den Sprung nach ganz oben, während tendenziell weniger Kinder aus reichen Haushalten den Weg in untere Einkommensgruppen antreten müssen. (Gregor Zens, Philipp Warum, 9.7.2019)


Gregor Zens arbeitet am Institut für Makroökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsgebiete umfassen unter anderem angewandte bayesianische Ökonometrie und Fragen der Verteilungsökonomie.
Philipp Warum hat an der Universität Maastricht, an der UCLA und an der WU Wien Volkswirtschaft studiert. Als Teil eines internationalen Forschungsprojekts (Stanford University, NYUAD, UNC, WU Wien) zu den Wahrnehmungen von ökonomischen Dynamiken analysiert er die für Österreich resultierenden Daten.