Im Gastkommentar schlägt der frühere EU-Kommissar Franz Fischler Ursula von der Leyen vor, das europäische Wahlrecht und ein besseres Personalauswahlverfahren zu ihren Top-Prioritäten zu machen.

Statt in eine neue Aufbruchsstimmung ist die EU durch das jüngste Gezerre um das Führungspersonal in den Krisenmodus zurückgefallen. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Entgegen den meisten Prognosen war die Europawahlbeteiligung dieses Mal so hoch wie noch nie. Die Populisten und Nationalisten sind zwar stärker geworden, aber die Forderungen, die EU kaputtzumachen oder dem Brexit weitere Exits folgen zu lassen, sind nicht einmal mehr von Frau Le Pen und Genossen zu hören.

Was sich bei der Suche nach der künftigen Führung abspielte, war ein jedoch unwürdiges Machtspiel – ausgetragen zwischen EU-Parlament, Regierungschefs und Parteien. Man war mit dem Anspruch angetreten, ein ausgewogenes Paket zwischen Nord und Süd, zwischen rechts und links, zwischen den Geschlechtern und zwischen größeren wie kleineren Mitgliedsstaaten zu finden. Herausgekommen ist eine Dominanz der größeren Mitgliedsstaaten. Eine Lösung, bei der kein Vertreter der neuen Mitglieder aufscheint und mit der vor allem das Wahlversprechen des Parlaments gebrochen wurde, dass einer der Spitzenkandidaten an die Spitze der Kommission kommen werde.

Zauberten den die EU-Topjobkandidaten aus dem Hut: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel.
Cartoon: Michael Murschetz

Mehr Mut

Man machte es sich jedoch zu einfach, wenn man sich mit dem – vor allem vom EU-Parlament geübten – "Regierungschef-Bashing" zufriedengäbe. Sie sind zwar die größten Krisenverursacher, aber nicht alleine daran schuld. Das Europäische Parlament, die politischen Parteien und die allgemeine Reformunwilligkeit tragen auch zur Krise bei.

Was es jetzt braucht, sind gangbare Wege für die Zukunft und die notwendige Portion Mut, diese auch zu beschreiten. Jedenfalls muss eines klar sein: Das Bild, das die Verantwortlichen in der und für die EU derzeit abgeben, ist jämmerlich und Wasser auf die Mühlen aller EU-Gegner.

Top-Priorität: Europäisches Wahlrecht

Am wenigsten kann man den für die Spitzenjobs vorgeschlagenen Persönlichkeiten einen Vorwurf machen: Ihnen allen ist zuzutrauen, dass sie die ihnen zugedachten Aufgaben erfolgreich meistern werden. Es ist daher äußerst unfair, dass die Parlamentarier jetzt nach dem Sprichwort "Ich schlag den Sack und meine den Esel" handeln und das künftige europäische Führungspersonal beschädigen, bevor es überhaupt tätig werden konnte.

Die wahrscheinliche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wäre daher gut beraten, wenn sie sowohl ein europäisches Wahlrecht, das diesen Namen auch verdient, als auch ein besseres Personalauswahlverfahren in ihrem Regierungsprogramm für die Kommissionsarbeit zu ihrer Top-Priorität machen würde. Das ist auch aus demokratiepolitischen Gründen eine mehr als berechtigte Forderung: Denn wer soll ein System verstehen können, das nicht einmal dasselbe Mindestwahlalter vorsieht, welches nach dem jeweiligen nationalen Wahlrecht mit jeweils nationalen Kandidatenlisten abläuft und Spitzenkandidaten vorsieht, die nur in einem der 28 Mitgliedsstaaten unmittelbar wählbar sind?

Gleiches Recht für gleiche Bürger

Es ist dringend anzuraten, ein europäisches Wahlrecht zu schaffen, das "gleiches Recht für gleiche Bürger" gewährleistet. Dafür wäre es sinnvoll, einen Mix aus Direkt- und Listenwahlrecht einzuführen. Aus Wahlkreisen, die so groß sein müssen, dass auf diesem Weg die Hälfte bis zwei Drittel der Kandidaten direkt gewählt werden könnten, sollen die Kandidaten mit den meisten Stimmen ins Parlament einziehen. Das würde für Österreich bedeuten, dass in jedem Bundesland ein Kandidat direkt gewählt werden könnte.

Daneben muss es auch Parteilisten geben, um der jeweiligen politischen Stärke der Parteien Ausdruck zu verleihen. In diese Listen sind auch die europäischen Spitzenkandidaten aufzunehmen. Eine solche Vorgangsweise hätte neben der Repräsentanz der regionalen Interessen im EU-Parlament auch den Charme, dass die europäischen Parteienfamilien sich schon im Vorfeld der Wahl sehr genau überlegen müssten, wen sie für die Kommissionspräsidentschaft ins Rennen schicken.

Und die Rolle des Rats?

Die absolute Priorität für die Regierungschefs müsste es sein, endlich zu überlegen, wie sie miteinander umgehen und welche Rolle sie dem Rat zuordnen wollen.

Auf der einen Seite beklagen sie den Zwang zur Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Steuer- und Budgetpolitik. Andererseits erlegen sich die Regierungschefs einen Zwang zur Einstimmigkeit auch dort auf, wo gar keiner nötig ist. Dieser Widerspruch muss endlich aufgelöst werden. Zudem zeigte sich zuletzt wieder deutlich, dass viele Regierungschefs die europäischen Organe als ihnen untergeordnet betrachten und sie jederzeit bereit sind, den Willen des Europäischen Parlaments und der Kommission zu ignorieren.

Strategie bestimmen

All diese Überlegungen sind relativ rasch umsetzbar. Sie verlangen weder einen neuen Konvent noch ein aufwendiges Vertragsänderungsverfahren. Nur eines kann man mit verbesserten Verfahren leider nicht erreichen: nämlich eine klare Antwort auf die Frage zu bekommen, was wir in Europa (noch) miteinander wollen?

Um diese Frage zumindest einigermaßen glaubwürdig beantworten zu können, braucht es ein besseres Hinhören auf die Bevölkerung! Dann würden auch die Prioritäten für die nächste Legislaturperiode rasch klar sein. Und es braucht einen Dialog unter den europäischen Führungskräften, um die Strategie für die nächsten Jahre auszudiskutieren. Was wäre hier naheliegender, als nach der Konstituierung der künftigen Kommission ein Treffen zwischen Regierungschefs, Kommission und der Parlamentspräsidiale zu organisieren, auf dem eben die Gretchenfrage auf den Tisch kommt: "Was wollen wir miteinander?" (Franz Fischler, 5.7.2019)