Im Gastkommentar plädiert der ehemalige Spitzendiplomat Stefan Lehne, bei Europawahlen künftig transnationale Listen einzuführen. Eine andere Position zum Zustandekommen des Personalpakets vertritt der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler.

"Schwerer Rückschlag für die Europäische Demokratie", "arrogantes Ignorieren des Wählerwillens", "abstoßender Postenschacher hinter geschlossenen Türen", das sind nur einige der Reaktionen auf das vom Rat geschnürte Personalpaket. Hauptangriffspunkt ist dabei, dass die von den EU-Parteigruppierungen nominierten Spitzenkandidaten nicht zum Zug gekommen sind. Aber diese Sicht der Dinge geht völlig an der Realität vorbei.

Laut EU-Vertrag hat der Rat einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, wobei er das Ergebnis der Parlamentswahlen berücksichtigen muss. Vor den im Mai abgehaltenen Wahlen ebenso wie bereits 2014 stellten die meisten Parteien Spitzenkandidaten auf, um den Wahlprozess noch stärker mit der Auswahl des Kommissionspräsidenten und damit auch mit der Bestimmung des zukünftigen Kurses der EU zu verkoppeln. 2014 war sich die Mehrheit im Parlament einig, dass der Kandidat der stärksten Fraktion, der EVP, Jean-Claude Juncker – und nur dieser – gewählt werden würde. Vor vollendete Tatsachen gestellt, fügte sich der Europäische Rat widerstrebend diesem Wunsch.

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Das Parlaments-Hearing der Kandidatin Ursula von der Leyen wird sicher schwierig ausfallen.
Foto: AP Photo/Jean-Francois Badias

Gescheitertes Parlament

Nach den diesjährigen Wahlen unterblieb aber eine entsprechende Einigung der Parlamentsparteien. Die drei größten Gruppen hatten profilierte Kandidaten (Weber/EVP, Timmermans/Sozialdemokraten, Vestager/Liberale) aufgestellt; aber für keinen von ihnen zeichnete sich eine Mehrheit im Parlament ab. Die Parteien konnten sich daher nur darauf festlegen, dass einer der Spitzenkandidaten zum Zug kommen sollte.

Nur weil das Parlament selbst an der Umsetzung des Konzepts scheiterte, gelangte der Ball wieder in das Lager der Staats- und Regierungschefs. Dort sind die Meinungen über das Spitzenkandidatenmodell geteilt. Einige – diesmal auch Angela Merkel – sind dafür; andere, unter Führung Emmanuel Macrons, sehen darin einen Übergriff des Parlaments. Abgesehen von der Nominierung des Kommissionspräsidenten sollte der Rat ein ausgewogenes Gesamtpaket aller neu zu besetzenden Positionen (Präsident des Rats, Präsident der Europäischen Zentralbank und Hoher Vertreter für die Außenpolitik) zusammenstellen. Die Verhandlungen darüber sind naturgemäß schwierig, und sie finden zwangsläufig hinter verschlossenen Türen statt. In öffentlichen Sitzungen mit 28 Teilnehmern käme wohl kaum je eine Einigung zustande.

Wichtiges Signal

Nach allem, was man erfahren konnte, spielten die Spitzenkandidaten eine beträchtliche Rolle in diesen Gesprächen, stießen aber aus verschiedenen Gründen auf Widerstand. Weber wurde seine mangelnde exekutive Erfahrung vorgeworfen. Gegen Timmermans mobilisierten die Visegrád-Staaten und Italien wegen seines Engagements für die Rechtsstaatlichkeit. Und die liberale Vestager war für die EVP-Regierungschefs nicht akzeptabel, die das Scheitern Webers schlecht verkrafteten. In der schlussendlich gefundenen Lösung finden sich immerhin zwei Spitzenkandidaten (Timmermans und Vestager) in der Rolle von Vizepräsidenten der Kommission. Die Kandidatin für den Kommissionsvorsitz, die Christdemokratin Ursula von der Leyen, gehört der mandatsstärksten Parteiengruppe an, was ebenfalls als Berücksichtigung des Wahlergebnisses gewertet werden kann.

Betrachtet man die persönlichen Qualifikationen, bleibt das neue EU-Führungsteam sicher nicht hinter seinen Vorgängern zurück. Eine gewisse "Westlastigkeit" ist der Selbstisolierung der Visegrád-Staaten geschuldet, die alle Energie in die Verhinderung Timmermans investierten. Dass die beiden wichtigsten Funktionen (Kommission und EZB) diesmal an Frauen gehen, ist ein wichtiges Signal. Zumindest in den EU-Institutionen ist der gläserne Plafond damit endgültig durchbrochen.

Schwieriges Hearing

Wird das Parlament von der Leyen zur Kommissionspräsidentin wählen oder – wie einige Abgeordnete es fordern – den Vorschlag ablehnen und den Rat damit zwingen, einen anderen Kandidaten vorzuschlagen? Das Parlaments-Hearing der Kandidatin wird sicher schwierig ausfallen. Aber letztlich spricht alles für ein positives Ergebnis. Das Parlament hat keinen tauglichen Plan B und kann kein Interesse an einem langen institutionellen Konflikt haben. Die Unterstützung des Vorschlags durch alle 28 Regierungschefs gibt ihm eine breite Legitimation. Schließlich sind die meisten Regierungschefs auch Parteichefs und haben einen beträchtlichen Einfluss auf das Stimmverhalten der Parlamentarier.

Ist das Spitzenkandidatenkonzept damit Geschichte? Wohl kaum! Das Parlament wird auch in Zukunft bestrebt sein, die Auswahl des Kommissionspräsidenten mitzubestimmen. Das Konzept würde aber an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn einige Schwachstellen beseitigt werden.

Transnationale Listen

Ein entscheidender Fortschritt wäre die Einführung transnationaler Listen. Solange die Spitzenkandidaten nur in ihrem eigenen Land gewählt werden können und in den meisten von den nationalen Parteien geprägten Wahlkämpfen praktisch keine Rolle spielen, hat das Konzept nur geringe Bedeutung für die Motivation des einzelnen Wählers. Von den Spitzenkandidaten angeführte transnationale Listen würden die politische Durchschlagskraft des Konzepts erheblich steigern. Auch könnte das Auswahlverfahren für die Kandidaten offener und demokratischer gestaltet werden. Entscheidend wird aber sein, ob in der Folge der nächsten Wahl für einen der Spitzenkandidaten im Parlament die erforderliche Mehrheit erzielt werden kann, noch bevor der Europäische Rat sich mit der Personalfrage beschäftigt. Angesichts der zunehmenden Fragmentierung der Parteienlandschaft wird dies allerdings immer schwierigerer.

Der gegenwärtige Entscheidungsprozess über das EU-Führungspersonal, in dem unterschiedliche institutionelle, parteipolitische und nationale Interessen mühsam abgeglichen werden müssen, hat sicher große Defizite und vermittelt kein besonders erfreuliches Bild vom Zustand der EU. Dass trotz aller Spaltungen und Verwerfungen letztlich ein durchaus vorzeigbares Ergebnis erzielt wurde, gibt aber andererseits auch Anlass für Optimismus. (Stefan Lehne, 7.7.2019)