Es ist vier Uhr morgens, als das 18 Meter lange Segelschiff Alex vor den italienischen Hoheitsgewässern der Insel Lampedusa zu stehen kommt. An Bord befinden sich 65 Menschen: elf Crewmitglieder und 54 Flüchtlinge und Migranten, die in der libyschen Such- und Rettungszone aus Seenot gerettet wurden.

Die Alex ist das Schiff der Hilfsorganisation Mediterranea Saving Humans und fährt unter italienischer Flagge. Doch auch das hält die Finanzpolizei nicht davon ab, umgehend ein Dokument zu überbringen, das auf das sogenannte Salvini-Dekret hinweist. Innenminister Matteo Salvini von der rechtsnationalen Lega hatte das Dekret Mitte Juni durchgebracht, wonach privaten Rettungsschiffen, die Gerettete nach Italien bringen, eine Strafe von bis zu 50.000 Euro droht.

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Das Rettungsschiff der spanischen Hilfsorganisation Proactiva Open Arms hat in einer vergangenen Mission im Mittelmeer ein Boot voller Migranten entdeckt – nun ist es wieder vor Libyen unterwegs.
Foto: AP / Olmo Calvo

Doch die Crew der Alex will keinen anderen Hafen ansteuern. Zwar hatte Malta angeboten, das Schiff anlegen und die Geretteten an Land gehen zu lassen. Doch das würde für die 65 Personen an Bord eine elfstündige Reise Richtung Malta bedeuten. Eine nicht zumutbare Fahrt für das volle Segelboot, argumentiert die Hilfsorganisation auf Twitter. Man wolle die Menschen aber sehr wohl italienischen oder maltesischen Patrouillenbooten übergeben.

Der Ausgang ist ungewiss, klar ist aber: Salvini will weiterhin hart bleiben und private Rettungsschiffe von italienischen Häfen fernhalten. Und das, obwohl eine italienische Richterin erst diese Woche geurteilt hat, dass das Dekret nicht für Rettungsschiffe, sondern viel mehr für Menschenhändler gelte. Jene Richterin, die die Freilassung der deutsche Sea-Watch-3-Kapitänin Carola Rackete angeordnet hatte, fand in ihrer Urteilsbegründung klare Worte: Sie stellte fest, dass weder Libyen noch Tunesien als sicherer Ort nach dem Seerecht gelten.

Rackete klagt Salvini

Solch einen braucht es aber, um eine Seenotrettung abschließen zu können. Auch sei ein maltesischer Hafen keine Option gewesen, da Malta zu klein und zu weit weg sei. Also sei nur noch Lampedusa als sicherer Ort infrage gekommen, so die Richterin. Rackete übrigens will nach ihrer Freilassung nun Salvini wegen übler Nachrede verklagen, teilte ihr Anwalt am Freitag mit.

"Der Urteilsspruch ist zwar nicht Gesetz, doch wird er in künftige Richtersprüche zu Seenotrettungen einfließen", ist sich Andrea Pappalardo im Gespräch mit dem STANDARD sicher. Pappalardo ist im Genfer Anwaltsbüro Mentha für die Italienagenden zuständig und Experte für internationales Seerecht. Es sei nicht das erste Mal, dass ein italienischer Richter Libyen und Tunesien als nicht sichere Orte eingestuft habe. Doch es sei das erste Mal seit Inkrafttreten des Dekrets, dass eine Richterin die Pflicht zur Seenotrettung über nationale Gesetze gestellt hat, so Pappalardo.

Grafik: DER STANDARD

Was das für die beiden anderen privaten Rettungsschiffe, Alan Kurdi und Proactiva, bedeutet, die sich im Moment vor Libyen befinden, ist noch unklar. Letzteres hat noch keine Geretteten an Bord, doch die Alan Kurdi der deutschen Hilfsorganisation Sea-Eye hat 65 Menschen aufgenommen. Am Freitag sichtete die Besatzung ein überfülltes Boot in der libyschen Such- und Rettungszone. Libyens Behörden meldeten sich laut Sea-Eye zunächst nicht.

Ziel Lampedusa

Erst nach einer Kontaktaufnahme mit der Seenotrettungsleitstelle in Bremen, erhielt die Alan Kurdi eine Telefonnummer der libyschen Küstenwache, bei der jemand abhob. Die Libyer wiesen den privaten Rettern einen Hafen auf libyschem Hoheitsgebiet zu, den die Besatzung der Alan Kurdi nicht ansteuern wird. Das sagt Jan Ribbeck, Einsatzleiter bei Sea-Watch, im Gespräch mit dem STANDARD. "Mit Kenntnis des Flaggenstaats Deutschland werden wir den nächsten europäischen Hafen ansteuern", sagt Ribbeck. Das ist Lampedusa.

Man werde aber wie immer das Territorialgebiet des jeweiligen Landes respektieren und nicht provokant vorgehen, sagt der Einsatzleiter. "Nur wenn ein übergeordnetes Gut, wie ein Leben, in Gefahr ist, werden wir ohne Erlaubnis einfahren", so Ribbeck: "Wir respektieren das italienische Justizsystem, aber fürchten uns nicht vor Herrn Salvini."

Im ersten Halbjahr 2019 fing die libysche Küstenwache rund 3500 Menschen ab. Das geht aus Zahlen des UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR hervor, die anwesend sind, wenn die Geretteten wieder an Land gehen. Vor allem seit Mai verzeichnet UNHCR einen Anstieg an Abfahrten. Grund dafür sind unter anderem bewaffnete Auseinandersetzungen in Libyen.

Gegen Menschenhändler

Bis 1. Juli erreichten heuer 36.178 (siehe Grafik) Menschen Europa über das Mittelmeer. 2018 kamen insgesamt rund 116.600 Menschen über die Mittelmeerrouten. UNHCR warnt, dass sich die Fluchtbewegungen wieder intensivieren könnten, wenn Projekte in Flüchtlingsaufnahmeländern in Afrika weiter unterfinanziert blieben. "Man muss das Thema zu einem humanitären machen", sagt UNHCR-Sprecher Charlie Yaxley zum STANDARD: "Die Anzahl der Ankünfte in Europa ist einfach zu handhaben. Nun braucht man Hilfe in den Ursprungsländern." UNHCR fordert ein härteres Vorgehen gegen Menschenhändler.

Um Verantwortung geht es auch Juan Branco, der mit einem Kollegen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag dazu bringen will, die Verantwortlichen des Sterbens im Mittelmeer zu finden – innerhalb der EU. Zwei Jahre lang hatte der Anwalt Branco das Ansuchen an den Strafgerichtshof ausgearbeitet, das er im Gespräch mit dem STANDARD als "ultrasolide" bezeichnet.

Für Branco ist klar, dass die EU bewusst Menschenleben für ihre Politik der Abschottung geopfert habe. "Wir wollen, dass Menschen vor Gericht gestellt werden", sagt Branco, der eine Entscheidung des Gerichtshofs im kommenden Monat erwartet. "Wenn es zu keinen Ermittlungen kommt, dann haben wir ein Problem mit unseren Institutionen", sagt Branco. Der Internationale Strafgerichtshof wird zu einem großen Teil von der EU finanziert. (Bianca Blei, 5.7.2019)