Wenn der Berufsschullehrer Peter Larndorfer in einer seiner Klassen über Demokratie und den Wert von Wahlen spricht, steht er regelmäßig vor einer kniffeligen Aufgabe. Larndorfer unterrichtet politische Bildung in der Berufsschule für Gastgewerbe in der Wiener Längenfeldgasse. Er kann nicht einfach sagen, dass Demokratie bedeutet, dass jeder mitbestimmen darf.

Denn wenn er fragt, wer in seiner Klasse wahlberechtigt ist, scheiden regelmäßig ein Drittel bis die Hälfte seiner Schüler aus. Was ihnen fehlt? Die österreichische Staatsbürgerschaft. Larndorfers Schüler haben oft Migrationshintergrund und sind häufig türkische, serbische oder bosnische Staatsbürger, selbst wenn sie mitunter schon zehn Jahre oder länger in Wien leben.

Wer in Wien um Einbürgerung ansucht, landet hier in der Dresdner Straße.
Foto: Regina Hendrich

Larndorfers Erfahrung lässt sich mit Zahlen belegen. In Wien sind inzwischen 29,5 Prozent der Bevölkerung im wahlfähigen Alter, also bald jeder Dritte, von Nationalratswahlen ausgeschlossen, weil sie keine Österreicher sind. National betrifft das rund 1,1 Millionen Menschen oder fast 15 Prozent der möglichen Wähler.

Schikanen

Der Anteil der Ausgeschlossenen steigt seit Jahren stetig – besonders in der Bundeshauptstadt. Ja, Wien ist ein Magnet für Ungarn, Slowaken und Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan. Aber selbst wenn in Österreich niemand mehr zuwandert, stiege die Zahl ausländischer Staatsbürger. Das liegt daran, dass Österreich eines der restriktivsten Länder bei Einbürgerungen ist. Jedes fünfte Kind, das zwischen Eisenstadt und Bregenz auf die Welt kommt, hat einen ausländischen Pass. Die österreichische Staatsbürgerschaft, an die das nationale Wahlrecht geknüpft ist, wird dagegen sehr selten verliehen. Woran liegt das?

Zeynep Atesman hört gar nicht auf zu reden, wenn sie darauf angesprochen wird. "Es war der schlimmste Prozess meines Lebens. Es war Schikane pur", erinnert sich die 35-Jährige.

In der Türkei geboren, kommt sie vor 19 Jahren nach Wien, maturiert und studiert. Als Schlüsselkraft findet Atesman zwar Arbeit, muss aber regelmäßig um Verlängerung ihres Aufenthalts ansuchen. Diese Unsicherheit bewegt sie dazu, Österreicherin werden zu wollen. Hinzu kommt der Wunsch, in dem Land, in dem sie so lange lebt, mitbestimmen zu können. Termin folgt auf Termin.

"Es hieß ständig: Dieses fehlt noch, jenes fehlt noch." Sie hatte sechs Monate in der Schweiz gelebt, ehe sie nach Österreich kam. Deshalb verlangt man von ihr bei der Einbürgerung in Wien einen Strafregisterauszug aus der Schweiz. Sie absolviert vier Monate auf der Uni keine Prüfung. Ein Beweis wird verlangt, dass sie überhaupt im Land war in dieser Zeit. Drei Jahre dauert das Verfahren schließlich. Und dann die Kosten: "Ich glaube, ich bin auf 1500 bis 1700 Euro gekommen."

Möglichkeiten der Einbürgerung

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft sind streng abgesteckt. Österreich ist eines der wenigen Einwanderungsländer, in denen Kinder, die hier geboren werden, nicht automatisch Österreicher sind. Deutschland hat das beispielsweise im Jahr 2000 geändert. Es reicht, wenn ein Elternteil seit acht Jahren im Land lebt. In Österreich müssen auch die Kinder den Amtsweg durchlaufen.

Wann besteht nun die Möglichkeit der Einbürgerung? Im Regelfall nach zehn, in Ausnahmen nach sechs Jahren. Diese Jahre zu erreichen ist nur ein Problem. Denn die Liste der eingezogenen Hürden ist lang: Das beginnt damit, dass man die in Österreich verlebte Zeit nicht unterbrechen darf. Dann gibt es die finanziellen Fragen. Anwärter müssen nachweisen, dass sie sich selbst erhalten können. Dazu müssen sie belegen, dass sie in den vergangenen drei von sechs Jahren zumindest ausreichend Einkünfte bezogen haben.

Der genaue Wert variiert. Für eine Einzelperson waren dies zuletzt monatlich 933,06 Euro netto, für ein Ehepaar 1398,97 Euro. Der Betrag erhöht sich für jedes Kind. Auch wer regelmäßig Miete, Betriebs- und Stromkosten oder Unterhalt zu bezahlen hat, muss ein höheres Einkommen nachweisen.

Laut Berechnungen des Politologen Gerd Valchars hat das eine "stark ausschließende Wirkung". Bezieht man die Kosten für Energie und Wohnen als regelmäßige Aufwendungen mit ein, verdienen mehr als 30 Prozent aller angestellten Frauen und mehr als 60 Prozent aller Arbeiterinnen in Österreich zu wenig, um eine Chance auf eine Staatsbürgerschaft zu haben. Selbst viele Österreicher könnten diese Hürde nicht nehmen.

Harter Kurs

Der wahre finanzielle Fallstrick sind aber oft die anfallenden Gebühren: Die Regelungen sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Ein Paar mit Kind, das nach zehn Jahren ansucht, zahlt in Wien etwas mehr als 2700 Euro. Übersetzungs- und Beglaubigungskosten sind dabei noch nicht eingerechnet. In der Steiermark kostet der Vorgang mehr als das Doppelte. Unbescholten muss man zudem sein und einen Test bestehen. Was auch verlangt wird: Die alte Staatsbürgerschaft muss aufgegeben werden. Auch das ist für viele eine hohe Hürde.

Österreich fährt hier einen harten Kurs. Unter den großen Einwanderungsländern in Europa werden in Österreich die "Doppelstaatsbürgerschaften am restriktivsten gehandhabt", sagt Migrationsforscher Rainer Bauböck. Die Schweiz lasse diese seit 1990 zu, Italien folgte zwei Jahre später. In Deutschland gibt es zwar das Verbot von Doppelstaatsbürgerschaften noch, dafür ist die Liste der Ausnahmen lang. Das wäre auch Suna Orçun Federmairs Wunsch gewesen. "Die türkische Staatsbürgerschaft zurücklegen zu müssen, fand ich schade, weil ich gerne auch dort wählen würde", erzählt die 40-Jährige. Seit August 2018 ist sie österreichische Staatsbürgerin.

Wie Zeynep Atesman nennt auch sie die Mühsal des Verfahrens als die größte Hürde: "Für mich war es auf jeden Fall die emotionale Zermürbung."

Vom Wahlrecht ausgeschlossen

1997 zieht sie aus Istanbul fürs Studium nach Wien. "Anfangs gab es keinen besonderen Grund, aber nach und nach, als das Leben und die Politik in Österreich für mich viel relevanter wurden als in der Türkei, war es frustrierend, nicht mitbestimmen zu dürfen", erinnert sich Orçun Federmair. 2005 stellt sie einen Antrag, nach einigen Wochen kommt die Absage. Zehn Jahre später der nächste Versuch – vergebens, weil sie knapp zwei Jahre in Brüssel gelebt hat. Unterbrechungen des Aufenthalts sind nicht erlaubt. Erst im dritten Versuch klappt es.

Natürlich lässt sich trefflich argumentieren, dass, wer Österreicher werden will, seine ausländische Staatsbürgerschaft ablegen soll. Zudem mögen manche junge Männer mit Migrationshintergrund mit dem Einbürgerungsantrag zuwarten, bis sie über 35 sind – um den Grundwehrdienst nicht mehr leisten zu müssen. Doch wer mit Eingebürgerten und Experten spricht, bekommt rasch den Eindruck, dass viele wollen, aber die Kosten und die komplexen Verfahren abschreckend wirken.

Alles in allem führen die erwähnten Faktoren dazu, dass es in Wien 2018 gerade einmal 4121 Einbürgerungen gab – und hier finden rund die Hälfte aller Verleihungen statt. Für ganz Österreich lag die Rate bei 0,67 Prozent. Das hat nicht nur den Effekt, dass immer mehr Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Es führt auch dazu, dass die Zahl der österreichischen Staatsbürger langsam sinkt. Bei den Nationalratswahlen 2017 waren weniger Menschen im Inland wahlberechtigt als 2013. Dass es insgesamt mehr Wahlberechtigte gab als zuvor, lag nur daran, dass 2017 sehr viele Österreicher im Ausland eine Wahlkarte beantragten.

Die Frage ist, ob das demokratiepolitisch ein Problem ist. Immerhin sind rund die Hälfte der ausländischen Staatsbürger EU-Bürger. Sie können auf Ebene ihrer Gemeinde, in Wien ihres Wohnsitzbezirks, mitwählen. Aber: Politisch am bedeutendsten sind die Nationalratswahlen, und da gilt der Ausschluss für alle Nichtösterreicher. Auch das Argument, dass viele Einwanderer nur ein paar Jahre im Land sind, zieht nicht. Laut Statistik Austria leben 60 Prozent der ausländischen Staatsbürger fünf Jahre und länger im Land. Rund 40 Prozent, mehr als eine halbe Million Menschen, leben länger als zehn Jahre hier.

Von der Staatsbürgerschaft entkoppelt

Georg Lauß, der politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien lehrt, sagt, dass der Ausschluss vom Wahlrecht desintegrativ wirke. Wer nicht mitbestimmen kann, interessiere sich weniger für Gesellschaft und Politik in dem Land, in dem er lebt.

Es ginge auch anders. Neben der Möglichkeit, die Vergabe der Staatsbürgerschaften an weniger Bedingungen zu knüpfen, könnte das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft entkoppelt werden. In Chile, Uruguay, Ecuador, Neuseeland und Malawi dürfen ausländische Staatsbürger bei Parlamentswahlen wählen. In Neuseeland ist das sogar schon nach einem Jahr Aufenthalt möglich. Auf nationaler Ebene sind das Ausnahmen. Auf kommunaler Ebene gibt es eine Reihe von Ländern, die allen ausländischen Staatsbürgern nach einer Zeit das Wahlrecht geben.

Das "Gelöbniszimmer" steht oft am Ende eines langes Weges zur Einbürgerung.
Foto: Hendrich

Wien ist mit dem Versuch der Öffnung des Wahlrechts beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) abgeblitzt. Die Gesetzesnovelle von SPÖ und Grünen, die ausländischen Staatsbürgern nach fünf Jahren Aufenthalt das Wahlrecht ermöglicht hätte, wurde 2004 vom VfGH gekippt. Begründung: "Das Recht geht vom Volk aus", heißt es in der Verfassung, und der Begriff des Volkes sei an die Staatsbürgerschaft geknüpft. Also dürfen nur Österreicher wählen – oder die Verfassung wird geändert.

Position der Parteien

Wie sehen die Parteien das Thema? SPÖ und Grüne haben 2004 im Wiener Gemeinderat den Beschluss gefasst, wonach der Bundesgesetzgeber tätig werden solle, um ein kommunales Wahlrecht zu ermöglichen. Um das Thema ist es seither still geworden.

Im Plan A der SPÖ, mit dem Ex-Kanzler Christian Kern in den Wahlkampf zog, fand sich keine Forderung nach mehr Inklusion. Dabei sagen Politologen, dass gerade die Sozialdemokratie viel zu gewinnen hätte – längerfristig. Ein großer Teil der Migranten zählt sozioökonomisch zu jener Klientel, die die SPÖ anzusprechen versucht. Die historische Parallele: Die Sozialdemokratie ist im 19. Jahrhundert als Bewegung entstanden, die sich für Arbeiter einsetzte, die kein Wahlrecht hatten.

Autor Robert Misik, ein Kenner der Sozialdemokratie, sagt, dass die SPÖ aus Angst vor der FPÖ schnellere Einbürgerungen oder ein Wahlrecht für Nichtösterreicher nicht forciere. "Das Thema anzusprechen würde zwar zur Grundhaltung passen, aber elektoral zunächst nichts bringen", sagt Misik. Je "toxischer" das Thema Migration in den vergangenen Jahren geworden sei und je mehr es von der FPÖ besetzt wurde, umso weniger wage die SPÖ, hier Flagge zu zeigen.

Die Neos fordern in ihrem Grundsatzprogramm, das aktive Wahlrecht für alle Wahlen an den Wohnsitz zu knüpfen und auch für Einwohner mit ausländischem Pass zu öffnen. Die Grünen sind für raschere Einbürgerungen. Die ÖVP streifte das Staatsbürgerschaftsrecht in ihrem Wahlprogramm nur am Rande, etwa mit dem Hinweis, dass in Gefängnissen vor allem ausländische Staatsbürger säßen. Im Koalitionsabkommen mit der FPÖ wurde angedeutet, dass die Zugangsregeln weiter verschärft werden sollten.

Niedrigere Beteiligungsrate

Aus Untersuchungen lässt sich ableiten: Die Wahlbeteiligung würde bei einer Öffnung nicht gleich in die Höhe schießen. Menschen mit Migrationshintergrund wiesen im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung eine niedrigere Beteiligungsrate auf, sagt Migrationsforscher Bauböck. Erst in der zweiten, dritten Generation ändere sich das.

Es gebe aber einen anderen Punkt, der für eine Änderung spreche: "Der Haupteffekt ist, dass die Parteien dann um diese Stimmen werben und die Interessen vertreten werden", sagt Bauböck. Geburtenrate und Zuwanderung werden dafür sorgen, dass der Anteil der Wohnbevölkerung ohne Wahlrecht weiter zunehmen wird: "Wenn diese Bevölkerungsgruppe weiter größer wird, muss man fragen: Wie repräsentativ ist dann die repräsentative Demokratie in Österreich noch?"

Georg Lauß, von der Pädagogischen Hochschule Wien, ergänzt: "Man kann der Ansicht sein, dass es kein Problem ist, wenn 15 Prozent der Bevölkerung nicht wählen dürfen. Aber was ist, wenn es 20 oder 30 Prozent sind, wann ist also der Punkt erreicht, an dem wir nicht mehr von einer Demokratie sprechen können?"

"No taxation without representation", keine Besteuerung ohne gewählte Vertretung: So lautete der Schlachtruf im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Dieses Prinzip gilt in Österreich jedenfalls nicht. (Peter Mayr, András Szigetvari, 7.7.2019)