Mit dem Fahrrad ins Büro: Jeremy Corbyn pflegt sein sportliches Image. Seine Labour Party wirkt derzeit eher kraftlos.

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Vermutlich ging Jeremy Corbyn auch diesen Sonntag joggen. Die Anwohner des Finsbury Park im Norden Londons sind jedenfalls daran gewöhnt, ihren örtlichen Unterhausabgeordneten vorbeitraben zu sehen. Manchmal bleibt der Oppositionsführer Ihrer britannischen Majestät auch stehen. Schnappt er dann nach Luft, wie es einem Hobbysportler im Pensionistenalter allemal zusteht? Oder betrachtet er nur die jüngsten Negativschlagzeilen, die ihm sein Team gerade aufs Smartphone geschickt hat?

Solche Fragen beschäftigen die Öffentlichkeit, seit die "Times" auf der Titelseite die "physische und psychische" Gesundheit des 70-Jährigen in Zweifel zog. Basierend auf Äußerungen anonymer Spitzenbeamter sowie interner Kritiker aus den Reihen der Labour Party malte die Zeitung das Bild eines geschwächten Politikers, der seine Partei nicht im Griff habe und von einer Kamarilla engster Berater herumgeschubst werde.

Gereizte Reaktionen

Corbyns Anhänger reagierten gereizt. Der Chef sei "total fit", erklärte Gewerkschaftsboss Leonard McCluskey. Der Vegetarier und Antialkoholiker sei "viel fitter als ich, und ich bin 31", so Laura Pidcock, eine der Corbynistas, die bei der Wahl 2017 ins Unterhaus geschwemmt wurden. Am tiefsten verbeugte sich ein "Guardian"-Kolumnist vor dem schlanken Mann, der regelmäßig seinen Schrebergarten beackert: Corbyn unterwerfe sich "einem härteren Fitnessprogramm als die meisten 20-Jährigen", beteuerte Owen Jones.

Der Oppositionsführer selbst griff zur Feder und forderte Aufklärung – pikanterweise ausgerechnet von Kabinettssekretär Mark Sedwill, den viele Labour-Leute als eine mögliche Quelle für die Times-Zitate sehen. Eilfertig sagte der oberste Beamte des Landes ein persönliches Gespräch zu, zumal sich auch konservative Kommentatoren kritisch über die Verletzung der Neutralitätspflicht von Beamten geäußert hatten.

Am Wochenende legte ein hochangesehener Ex-Diplomat nach. Corbyn habe "nicht das Kaliber, das wir von potenziellen Premierministern gewohnt sind", teilte John Sawers, der frühere Leiter des Auslandsgeheimdienstes MI6, der BBC mit und schloss in die Kritik auch die Bewerber um Theresa Mays Nachfolge, Boris Johnson und Jeremy Hunt, ein. "Das Land leidet an einem politischen Nervenzusammenbruch."

Schlechte Umfragewerte

Corbyns Überraschungswahl vor knapp vier Jahren war Anzeichen einer tiefen Unzufriedenheit mit der Politik, die im Jahr darauf im Brexit-Votum gipfelte. Seither machen Gerüchte über das Durchhaltevermögen des Mannes die Runde, der nach 32 Jahren auf den Hinterbänken des Parlaments nur widerstrebend für den Vorsitz kandidiert hatte. Das Gerede in der Unterhausfraktion, wo drei Viertel dem Chef kritisch gegenüberstehen, wird immer dann lauter, wenn die Umfragewerte schlecht aussehen.

Diese könnten kaum katastrophaler sein. Obwohl die konservative Regierung seit Monaten in Lähmung verharrt, liegt die größte Oppositionspartei meist auf Platz zwei, gelegentlich sogar hinter Tories, Brexit Party und Liberaldemokraten auf Platz vier. Zwischen 18 und 21 Prozent geben an, ihr Kreuz bei Labour machen zu wollen – vor zwei Jahren waren es 40 Prozent. Corbyn hat den schlechtesten Wert eines Oppositionsführers seit 50 Jahren: Nur jeder Fünfte glaubt, der 70-Jährige habe das Zeug zum Premier.

In der Partei wird vor allem über Corbyns ambivalente Brexit-Politik gestritten. Die Basis wünscht sich überwiegend den EU-Verbleib; die Spitze um den EU-Skeptiker Corbyn will die Tories das Schlamassel verantworten lassen und dann die Macht übernehmen. Resultat: Die Öffentlichkeit traut Corbyn auch in der wichtigen Brexit-Frage nicht über den Weg. (Sebastian Borger aus London, 8.7.2019)