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Auch wenn dieser Sturz auf der 3. Etappe der Tour de France 2015 für Dominik Nerz relativ glimpflich verlief, so hatte er wegen der vielen Stürze während seiner Karriere immer wieder mit Kopfschmerzen und Schwindel zu kämpfen.

Foto: REUTERS/Benoit Tessier

Die niederschmetternde Diagnose wurde nach der Oman-Radrundfahrt im Frühjahr 2016 gestellt: Magersucht. Der Arzt in Leipzig sagte: "Wenn Sie noch einen Monat so weitermachen, sind Sie tot." Dominik Nerz wusste zunächst nicht, ob es sich um einen schlechten Scherz oder eine maßlose Übertreibung handelte. Die Erkenntnis, dass es der Arzt "todernst meinte", sollte erst später reifen.

Deutschlands Hoffnung für Spitzenplatzierungen bei großen Rundfahrten war in dem Rennen nicht über Rang 83 hinausgekommen, hernach hatte es den damals 26-jährigen Radprofi niedergestreckt. Zu groß war die Belastung für den ausgemergelten Körper des Bora-Argon18-Kapitäns. Dr. Roger Palfreeman, der Teamarzt zu Nerz‘ Zeit beim Schweizer Team BMC, hat während der Oman-Rundfahrt erschrocken festgestellt, dass Nerz stark vom Fleisch gefallen war. "Was hast du im Winter gemacht? Du siehst jetzt aus wie einer, der die Tour de France gewinnt, aber warum siehst du jetzt schon so aus?" Also ging er mit ihm zum Buffet: "Das und das musst du essen, weil sonst überlebst du den Tag nicht", riet er ihm. Doch es war fast zu spät, der Zug fast abgefahren.

Nerz machte weiter. Bei der Dauphiné-Rundfahrt folgte für den Mann aus Wangen im Allgäu der nächste Einbruch. Untersuchungen an der Berliner Charité ergaben, dass er chronisch überbelastet war und sich sein Körper in einem dauerhaften Regenerationsprozess befand. An Hochleistungssport war fortan nicht mehr zu denken, zu viel Schindluder hatte er an seinem Körper getrieben. "Man hat mir gesagt: ‚Herr Nerz, ich glaube, das war’s mit ihrer Karriere.‘" Er befand sich daraufhin in einem lähmungsartigen Zustand. "Ich saß mutterseelenallein auf einem Bänkchen am Berliner Bahnhof und war handlungsunfähig, konnte weder heulen noch sonst was. Vakuum." Gemeinsam mit Hartmut Täumler, sein kompromissloser Trainer alter Schule aus der DDR ("Radfahrer müssen auch aus der Pfütze saufen können"), beschloss er, eine Pause einzulegen.

Hungern für den Erfolg

Die Notbremse wurde lange nicht gezogen. "Keiner ist gekommen und hat auf den Tisch gehauen und gesagt, es reicht! Ich möchte aber niemanden anprangern, ich bin zum größten Teil selbst an der Geschichte schuld." Nachzulesen ist sie übrigens in dem Buch "Dominik Nerz – Gestürzt: Eine Geschichte aus dem Radsport" von Michael Ostermann.

Nach Trainingsfahrten über sechs, sieben Stunden hatte Nerz versucht, auf Nahrung zu verzichten. "Die Methode war eine reine Fehleinschätzung von mir. Es war blöd zu glauben, ich werde erfolgreich, wenn ich mich quasi fast zu Tode hungere. Aber es war schon auch mit dem Druck verbunden, bei der Tour vorne mitfahren zu müssen."

Nach einem relativ kurzen Engagement für das sich auflösende Milram-Team zeigte Nerz bereits bei seiner ersten Tour-Teilnahme 2012 auf, als er im italienischen Liquigas-Cannondale-Team für Vincenzo Nibali in die Pedale trat. In seinem erst dritten Profijahr sorgte der 22-jährige Debütant auf der 17. Etappe für Furore, als er trotz vier Stürzen in den ersten zwei Wochen hinauf zum Port de Balès in den Pyrenäen mit hohem Tempo für eine Ausdünnung des Feldes sorgte und seinen Chef so in aussichtsreiche Position brachte.

Nerz bei der Tour 2015 im Interview.
RadReporter

Nach seinem Wechsel 2015 von BMC zu Bora hätte er selbst als Kapitän bei der "Tour der Leiden" reüssieren sollen. "Durch die hohe Erwartungshaltung hat der Schlamassel eigentlich erst angefangen." Gefordert wurde ein Platz unter den besten zehn, nach Möglichkeit unter den besten fünf. Mit Nerz wurde das im Vorfeld so aber nicht besprochen. "Da kam ich mir schon ein bisschen verarscht vor." Dann kamen sie, die immer wiederkehrenden, quälenden Fragen: Denkst du, du kannst es schaffen? Doch Nerz wusste, dass seine Werte weit weg von idealen waren, er hatte andere Probleme. Er brachte keine 60 Kilogramm mehr auf die Waage.

Gelegentliche Fressattacken

"Keiner konnte sich ein Bild machen, wie groß das Ausmaß war, weil ich alles getan habe, es nicht nach außen zu tragen." Es sei ihm schlecht gegangen, aber er stellte sich der Verantwortung eines Kapitäns. Er zwang sich zu essen. Auf gelegentliche Fressattacken folgte Entleerung. Dennoch verbesserte sich sein Zustand. Depressionen verstärkten aber seinen Wunsch, sich vom Sattel zu schwingen. "Ich wollte niemanden enttäuschen, aber tagtäglich sehen zu müssen, dass du es nicht hinkriegst, so sehr du es auch willst, macht dich fertig", berichtet Nerz, der nie Wert darauf gelegt habe, im Mittelpunkt zu stehen, auch gern für die anderen gefahren sei.

Doping habe ihn nie interessiert, der tagtägliche Kampf mit der Magersucht habe ihn derart eingenommen, dass er gar nicht auf die Idee gekommen sei, darüber nachzudenken. "Bescheißen wäre aber ohnehin nicht infrage gekommen, weil ich mich nicht mehr in meinem Ort blicken lassen hätte dürfen, wenn ich erwischt worden wäre. Auf die Tränendrüse drücken und sagen, das machen ja eh alle, ist Bullshit. Für mich stand das nie zur Diskussion."

Die eigentliche Erkenntnis, dass "das Ende der Sackgasse erreicht" ist, kam im September 2016 beim Giro della Toscana, einem Zweitagesrennen in Italien, bei dem Nerz wieder einmal einen Schwächezustand erlitt. "Ich habe gemerkt, dass es nicht mehr geht, dass die Ärzte Recht haben. Zudem gaben ihm einige schwere Stürze samt Kopfverletzungen zu denken, auch wenn er eine Grundbedingung des Radsports, Schmerzen zu ignorieren, längst verinnerlicht hatte. "Als ich Rennen für Rennen immer wieder auf die Schnauze gefallen bin, war irgendwann das Maß voll."

Dottore Corsettis Fettzange

Die drahtigen Körper der Tour-Gesamtsieger Christopher Froome und Bradley Wiggins waren nicht nur für Nerz Vorbild. Bei Liquigas hat er "sicherlich gewisse Verhaltensmuster gelernt, die vielleicht nicht unbedingt förderlich waren, für ein gesundes Essverhalten." Dottore Roberto Corsetti hatte den Profis die Fettzange angesetzt und die Körperfalten nach Überschüssigem überprüft. Die extrem kleinen Essensportionen hätten ihn damals noch irritiert, später kasteite er sich selbst.

Heute beschäftigt sich Dominik Nerz damit, wogegen er sich lange gesträubt hat.
Foto: privat

Heute beschäftigt sich Nerz mit dem kompletten Kontrastprogramm zu früher, mit dem Essen. Er ist bei seiner Mutter als Küchenchef in die Gastronomie eingestiegen. "Die Küche war für mich eine gewisse Heilung, weil ich gezwungen war, ein paar Sachen zu probieren." Mittlerweile gehe es ihm wieder sehr gut, sagt er, er stehe mit beiden Beinen im Leben. Ihm sei bewusst, dass man Essstörungen nie mehr ganz wegkriegt, gesundheitliche Defizite beklagt er aber nicht.

Der deutsche Bergmeister 2007 und U23-Straßenmeister 2009 hatte – wie er betont – im Radsport sehr lange eine gute Zeit. Schon in jungen Jahren erkundete er mit dem Rad die Umgebung, das war seins, so konnte er sich auspowern, er brauchte das und entwickelte so eine "wahnsinnige Leidenschaft" für den Sport. Ein großer Sieg blieb ihm jedoch verwehrt, am nächsten dran war er als Vierter der schweren 16. Vuelta-Etappe 2013. "Der Radsport ist wunderschön und toll, sonst würde man sich das gar nicht antun." Bei manchen Rennen sei er froh, dass er sie nicht mehr fahren müsse. "Die Tour aber ist der Wahnsinn, du kannst nichts Größeres erreichen, als dort zu starten und in Paris anzukommen." Der Radsport sei kein Zuckerschlecken, eine brutale Sportart, aber sicher nicht kompletter Nonsens. "Was es bedeutet, ein Profi zu sein, das merkt man aber erst, wenn man ein Profi ist." (Thomas Hirner, 8.7.2019)