Der Eingang eines Wahllokals in der Hauptstadt Athen. Für viele Familien brachte die Wirtschaftskrise am Anfang des Jahrzehnts einen tiefen Einschnitt in die Lebensverhältnisse.

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Ob mit der alten oder mit der neuen Regierung: Das Leben bleibt hier ein Improvisationsprojekt. Viele Griechen sagen, dass man nie wissen könne, was morgen passiere, und schon gar nicht, wie die Lage in zehn Jahren aussehen werde. Nantia Orfanaki weiß etwa nicht, ob sie in ihrer Wohnung bleiben kann. Seit 2012 hat sie keine Kreditraten mehr dafür bezahlt. Sie meint, sie habe Glück gehabt, dass sie gleich drei Banken Geld dafür schulde. Denn diese könnten sich nun nicht darüber einig werden, wer das Appartement bekommen soll.

Früher hat Frau Orfanaki ihr Geld damit verdient, Bekleidung an Geschäfte zu verkaufen. Dann kam die Krise. Drei Jahre war sie arbeitslos, jetzt arbeitet sie für eine Versicherung. Doch sie verdient nur 850 Euro, und die Ausbildung ihrer Tochter kostet im Monat 350 Euro. So bleibt ihr nichts für Ratenzahlungen.

Bruch vor acht Jahren

Orfanaki wartet gerade auf ihre Tochter Chrysa. Die 18-Jährige erinnert sich noch sehr gut daran, wie sich vor acht Jahren alles änderte. Die Eltern konnten es sich plötzlich nicht mehr leisten, in den Urlaub zu fahren. Und wenn die kleine Chrysa ihre Mutter anbettelte, ihr ein T-Shirt zu kaufen, das sie in der Auslage gesehen hatte, dann musste die Mutter nun meist Nein sagen. Chrysa will in zweieinhalb Jahren ihre Ausbildung im Hotelmanagement abschließen. Dann, so hoffen beide, wird sie einen Job finden – und die Mutter wird wieder ihre Kreditraten zahlen können.

Nicht nur der Staat, auch viele Bürger in Griechenland hatten vor der Krise oft Kredite aufgenommen, ohne sich ausreichend über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Berechnungen zufolge werden die staatlichen Schulden erst in Jahrzehnten zurückzahlbar sein. Diese Hypothek lastet auf den Kindern Griechenlands. Hinter der Annahme, dass die Schulden leicht abzuzahlen seien, steckte auch die Idee, dass man als EU-Bürger auf einem ähnlichen Wohlstandsniveau wie etwa in Deutschland leben könne.

Harte Lektionen

Es war eine harte Lektion, sagt Lois Labrianidis, der, seit die linke Syriza regiert, Generalsekretär für Strategische und Private Investitionen ist. Der Ökonom meint, dass die EU Griechenland in der Schuldenkrise sehr geholfen habe. Trotzdem "wussten wir bis dahin nicht, dass wir von einem Vereinigten Europa derart weit entfernt sind", resümiert er die letzten Jahre.

Griechenland sei nie wirklich erfolgreich darin gewesen, Investitionen aus dem Ausland anzulocken, so der Wirtschaftsprofessor aus Thessaloniki. Unter der Syriza-Regierung wurden immerhin Anreize für Investoren eingeführt. Und tatsächlich: Die Wachstumsraten im Tourismus lagen voriges Jahr bei knapp sieben Prozent. Labrianidis betont, man habe daran gearbeitet, dass Griechenland keine Billigdestination wird. Stattdessen habe man auf Qualitätstourismus, Ganzjahresangebote und Gesundheitsurlaube gesetzt.

Chancen sieht er auch in der Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten, in der Pharmaindustrie und in der Energieerzeugung, konkret der Solarenergie. Der Ökonom, der in einem sonnendurchfluteten Büro in der Athener Innenstadt sitzt, meint, dass Griechenland nicht mit Preisdumping oder niedrigen Steuern wie in Irland gewinnen könne.

Ein Staat, der beschützt

Geht es nach dem Mann mit dem eindrucksvollen Schnauzbart, steht Griechenland erst am Anfang des Reformkurses. Es dürfe "keinen Platz mehr für Leute mit politischen Verbindungen" geben, "die durch diese Vorteile erhalten", sagt er. "Wir müssen an einem Staat arbeiten, der jene beschützt, die ordentlich arbeiten."

Labrianidis wünscht sich auch eine reifere Debatte. Als im Vorjahr etwa bei einem Großfeuer hundert Menschen ums Leben kamen, habe man nicht über die Ursachen und die notwendigen Veränderungen gesprochen. Auch über die Gründe für die Staatsschuldenkrise sei nie wirklich tiefgründig diskutiert worden, meint Labrianidis. Selbst Wirtschaftsleute würden heute noch immer viel zu oft fragen, was irgendeine Partei zu einer politischen Idee sage – und nicht, ob diese ökonomisch sinnvoll sei. (Adelheid Wölfl aus Athen, 8.7.2019)