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Während in Deutschland rund elf Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, sind es in Griechenland über 20 Prozent, sagt Ökonom Bitros. Da gelte es anzusetzen.

Foto: AP/Petros Giannakouris

Griechenland brauche weder Sympathie noch freundliche Worte, sagt George Bitros, einer der wenigen liberalen Ökonomen in Athen. Der schlimmste Fluch, der Griechenland seit seinem Beitritt zur EU im Jahr 1981 heimgesucht habe, "war die umfangreiche Finanzhilfe, die es in diesen Jahrzehnten erhalten hat". Diese Hilfe habe die Griechen selbstgefällig und wettbewerbsunfähig gemacht, meint der Wirtschaftswissenschafter.

STANDARD: Die bei der Wahl vom Sonntag siegreiche Nea Dimokratia will in Griechenland Steuern senken und die Verwaltung reduzieren. Wie viel Handlungsspielraum hat sie dabei angesichts der öffentlichen Finanzen überhaupt?

Bitros: Wenn die Nea Dimokratia versuchen wird, ihre jüngsten Versprechen im Bezug auf Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu erfüllen, könnten die Zinsen für die öffentliche Verschuldung wieder steigen, und die Regierung könnte daran scheitern, das negative Investitionsklima umzukehren. Sie muss sich also auf rationale öffentliche Ausgaben und den Abbau der öffentlichen Beschäftigung konzentrieren. Letzteres übersteigt jedoch die Fähigkeiten der Parteien in Griechenland. Daher kann – abgesehen von der Änderung des Investitionsklimas und der Schaffung einer kohärenteren Wirtschaftspolitik – nicht viel erreicht werden. Man ging bisher davon aus, dass die Schulden innerhalb eines angemessenen Zeitraums zurückgezahlt werden können. Und der obligatorische Haushaltsüberschuss wurde so auch als Mittel zur Änderung der Einstellungen eingesetzt, da die griechischen Regierungen seit langem dazu neigen, übermäßige Defizite zu verzeichnen.

STANDARD: Gibt es überhaupt einen Weg, die Schulden zurückzuzahlen? Derzeit liegen sie bei etwa 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also viel höher als zu Beginn der Krise.

Bitros: Die Krise wird so lange anhalten, wie die Staats- und Regierungschefs und die Bürger Griechenlands auf den Vorzügen des staatlich gesteuerten Marktwirtschaftsmodells bestehen, das für den Konkurs von 2009 verantwortlich war. Wenn die Griechen aber einen schnellen Ausweg aus der gegenwärtigen Pattsituation wünschen, sollten wir die Politik den Plänen Irlands, Hongkongs und Singapurs anpassen. Auf diesem Weg würde Griechenland in wenigen Jahren zu einem wirtschaftlichen Wachstumstiger des Südens Europas. Dann würde die enorme Auslandsverschuldung die Anleger nicht mehr negativ beeinflussen. Zudem würden die europäischen Gläubigerländer bald feststellen, dass diese Verschuldung nicht mehr tragfähig ist und so schnell wie möglich erheblich nach unten angepasst werden sollte.

STANDARD: Wie stabil ist die derzeitige Haushaltslage? Worauf muss man bei der Rückzahlung von Schulden achten, damit man nicht wieder in die totale Krise gerät?

Bitros: Solange der öffentliche Sektor so groß ist, also mehr als 20 Prozent der aktiven Arbeitskräfte beschäftigt, und die Produktivität gleichzeitig weniger als 40 Prozent derjenigen im privaten Sektor beträgt, wird die erreichte Haushaltsstabilität weiterhin ungewiss bleiben. Dieser Unterschied zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor führt zur größten Verzerrung. Solange die Regierungen dieses Problem nicht angehen, bleiben die Haushaltsstabilität und alle anderen Kennziffern, an denen wir den Fortschritt messen, auf einem prekären Niveau. Das könnte Griechenland letztendlich in eine weitere Krise führen, die diesmal von einem Staatsbankrott begleitet würde.

STANDARD: Stimmt es, dass die Sparmaßnahmen vor allem die Mittelschicht getroffen haben?

Bitros: Ich gehöre zur Mittelschicht und brauche keine Statistiken und Studien, um einzuschätzen, was mit dem Einkommen von Pensionisten, Arbeitnehmern im privaten Sektor, Jugendlichen mit über 40 Prozent Arbeitslosigkeit und 500.000 gebildeten und erfahrenen Menschen, die in den letzten zehn Jahren ins Ausland ausgewandert sind, geschehen ist. Ich habe fast 60 Prozent meines Einkommens verloren, und wenn man in seinen 70ern ist, gibt es keine Möglichkeit, diesen Verlust zu ersetzen.

STANDARD: Sind die Einkommensverluste der Mittelklasse hauptsächlich auf die höheren Steuern zurückzuführen?

Bitros: Nur zum Teil, außerdem haben auch viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, und die Pensionen wurden wiederholt gekürzt. Die Steuern haben aber besonders Einkommen aus dem Kapital getroffen, was zu einem solchen Rückgang der Investitionen geführt hat, dass nun der Kapitalbestand der Wirtschaft weiter sinkt. Die Steuererhöhung war in dem Maß, wie sie erfolgte, ein grober Fehler – nicht der griechischen Politiker, sondern der sogenannten Experten von IWF und EU. Wenn sie die Struktur der griechischen Wirtschaft gekannt und sich um Griechenland gesorgt hätten, hätten sie darauf bestanden, die Last der Steueranpassung auf den öffentlichen Sektor zu legen, der für den Bankrott verantwortlich gewesen war. Stattdessen zerstörten sie den Privatsektor, der fast so wettbewerbsfähig war wie der Privatsektor in Deutschland.

STANDARD: Ist es also notwendig, die Produktivität des öffentlichen Sektors zu steigern und nicht nur die Anzahl der Beschäftigten zu senken?

Bitros: Man sollte beides tun. Griechenland sollte die Beschäftigung im öffentlichen Sektor auf den gleichen Prozentsatz senken wie in Deutschland. Darüber hinaus sollte die öffentliche Verwaltung neu organisiert werden, um die Produktivität auf das Niveau des Privatsektors zu steigern. Da das aus politischer Sicht sehr schwierig sein wird, sollten die EU-Behörden, wenn sie sich um Griechenland kümmern, ständigen Druck auf die griechischen Politiker ausüben, ihre alten Praktiken des Klientelismus aufzugeben.

STANDARD: Was waren die größten wirtschafts- und fiskalpolitischen Erfolge der Syriza-Regierung, und wo sehen Sie die größten Fehler?

Bitros: Mit Ausnahme der Arbeitsproduktivität zeigten die meisten makroökonomischen Kennziffern im Jahr 2014 eine zaghafte Verbesserung. Als Syriza übernahm, sanken sie wieder und stehen jetzt dort, wo sie damals waren. In der Zwischenzeit werden die Kapitalkontrollen fortgesetzt, die Banken sind in einer schrecklichen Verfassung, mit riesigen notleidenden Krediten überhäuft, das Investitionsklima ist negativ. Ich selbst kenne keine nennenswerten Erfolge auf dem Gebiet der Wirtschaft in den letzten vier bis fünf Jahren. Die Syriza-Leute haben aber keine Fehler gemacht. Bereits in der Opposition predigten sie ihre Antithese zur freien Marktwirtschaft, und das taten sie dann auch in der Regierung. Die griechische Bevölkerung hat den Fehler gemacht, Menschen, die diese Art von Wirtschaft hassen, die Aufgabe zu übertragen, die Marktwirtschaft wiederherzustellen.

STANDARD: Welche Strukturreformen wären Ihrer Meinung nach erforderlich, um den Wirtschaftsstandort Griechenland zu stärken?

Bitros: Die Vertreter aller politischen Parteien werden heftig gegen tiefgreifende Strukturreformen vorgehen. Aber wenn man von dem dynamischen Unternehmertum ausgeht, das wir in der Seeschifffahrt und im Tourismus beobachten, habe ich keinen Zweifel, dass griechische Unternehmer in einem Umfeld wirtschaftsfreundlicher politischer Stabilität Wunder vollbringen können. Die Nea Dimokratia kann trotz ihrer Torheiten von 2004 bis 2009 zumindest eine gewisse soziale und politische Stabilität garantieren.

STANDARD: Hat sich seit der großen Finanzkrise ein Wandel vollzogen? Gibt es jetzt mehr Bewusstsein, Transparenz und Achtsamkeit in Bezug auf Staatsausgaben, Bürokratie und Klientelismus?

Bitros: Wenn Sie unter dem Begriff "Klientelismus" die Praxis verstehen, Gefälligkeiten an Freunde, Verwandte und politische Unterstützer zu deren eigenen Gunsten und gegen die Interessen der Allgemeinheit zu verteilen, befürchte ich, dass sich die Situation sogar verschlechtert hat. Das auffälligste Beispiel in dieser Hinsicht ist das erwähnte Beschäftigungsniveau im öffentlichen Sektor. Während in Deutschland rund elf Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, sind es in Griechenland über 20 Prozent. Es tut mir leid, dass die Experten der EU und des IWF, die die Sparprogramme ausgearbeitet haben, in dieser Hinsicht weggeschaut haben. Damit haben sie weder den langfristigen Interessen Griechenlands noch ihren Organisationen gedient. Wenn es um Änderungen der Denkweise der Griechen in Bezug auf öffentliche Defizite oder Begünstigungen für Politiker geht, sind Änderungen sehr schwer zu erkennen. Aber hoffentlich weiß die politische Führung jetzt, dass sie in solchen Fällen beim nächsten Mal nicht unbeschadet davonkommen kann.

STANDARD: Welche grundlegenden Nord-Süd-Probleme sehen Sie in der EU – insbesondere angesichts der Krise in Italien –, die gelöst werden sollten, um eine größere wirtschaftliche und steuerliche Konvergenz in der Union zu erreichen?

Bitros: Für mich war Europa eine Enttäuschung. Griechenland braucht weder Sympathie noch freundliche Worte. Das Gleiche gilt für Italien. Der schlimmste Fluch, der Griechenland seit seinem Beitritt zur EU im Jahr 1981 heimgesucht hat, war die umfangreiche Finanzhilfe, die es in diesen Jahrzehnten erhalten hat. Meiner Ansicht nach hat diese Hilfe die Griechen in Zeiten, in denen die Welt offen und globalisiert wurde, selbstgefällig und wettbewerbsunfähig gemacht. Wenn die europäischen Regierungen Anteilnahme für die Probleme Griechenlands empfinden, sollten sie ihre Unternehmen ermutigen, hier zu investieren. Eine Welle von Investitionen einiger großer und bekannter EU-Unternehmen würde weltweit beruhigende Signale zu den Geschäftsaussichten des Landes aussenden.

Das könnte zu einer dauerhaften Trendwende weg von der gegenwärtigen prekären Situation führen. Europa ist aber als Ganzes im Vergleich zu den USA, Japan und ganz sicher China weniger wettbewerbsfähig. Um die weltweite Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, müsste der Anteil des öffentlichen Sektors am BIP in den EU-Staaten von derzeit 45 bis 47 Prozent auf 30 Prozent sinken, ohne dass Quantität und Qualität der sozialen Dienstleistungen beeinträchtigt werden. Die Arbeits- und Kapitalmobilität ist die zweite Hauptfront für Reformen. Griechenland hat etwa viel Sonne. Warum investieren deutsche Unternehmer in Nordafrika, um Strom zu produzieren, und kommen nicht nach Griechenland? (Adelheid Wölfl, 8.7.2019)