Susanne Schober-Bendixen steht vor dem Grab ihrer Urururgroßmutter. Die Inschrift auf dem dunkelgrauen Grabstein ist nur mit Mühe und aus nächster Nähe zu lesen. Rund herum wachsen Gras und wilde Pflanzen, einige Steine von Nachbargräbern liegen zerbrochen daneben.

Die Gräber von Schober-Bendixens Vorfahren – neben der Urururgroßmutter ist auch der Urururgroßvater dort beerdigt – befinden sich am Jüdischen Friedhof in Wien-Währing. Die Ruhestätte, die von 1784 bis 1879 von der jüdischen Gemeinde benutzt wurde, wird seit Jahrzehnten nicht mehr geordnet gepflegt. Der Gesamtzustand der Grabdenkmäler ist akut bedroht. Seit 1999 ist er für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.

Susanne Schober-Bendixen kommt etwa einmal im Monat auf den Friedhof. Sie organisiert Freiwilligentage und besucht die Gräber von Familienmitgliedern.
Foto: Robert Newald

Viele Gefahrenquellen

Will man ihn trotzdem besichtigten, muss man eine Haftungserklärung unterschreiben. Denn beim Betreten lauern – je nach Wind- und Wetterlage – Gefahren: Einige Familien-Gruftanlagen stehen seit der NS-Zeit offen, immer wieder stürzen Äste herab oder ganze Bäume um. Viele zerbrochene Steine und Platten sind Zeugnis davon.

Jennifer Kickert wurmt das. Die Grüne Gemeinderätin ist Sprecherin des gemeinnützigen Vereins "Rettet den Jüdischen Friedhof Währing", der es sich zum Ziel gesetzt hat, den Ort vor dem endgültigen Verfall zu bewahren. Zweck des Vereins ist vor allem, die Israelitische Kultusgemeinde (IKG Wien) bei der Finanzierung der Sanierung zu unterstützen.

Für Historiker ist der jüdische Friedhof ein Biedermeierjuwel.
Foto: Robert Newald

Mittel aus dem Friedhofsfonds

Während der NS-Zeit wurden tausende Gräber zerstört, Gebeine ganzer Familien wurden exhumiert. Die IKG als Eigentümerin wurde vom NS-Staat enteignet. 200.000 Juden lebten bis 1938 in Österreich. Laut der Volkszählung 2001 sind es heute nur mehr 7.000, andere Schätzungen gehen von etwa der doppelten Anzahl aus.

Auch Familienmitglieder von Schober-Bendixen wurden von den Nazis ermordet. Als Andenken hat sie sogenannte Stolpersteine in Wien verlegen lassen.

2010 wurde – neun Jahre nach der Unterzeichnung des "Washingtoner Abkommens", das unter anderem die Erhaltung jüdischer Friedhöfe regelt – ein Fonds für die Instandsetzung der Friedhöfe eingerichtet. Die Republik verpflichtete sich, über einen Zeitraum von 20 Jahren eine Million Euro jährlich dem Fonds, der für alle jüdischen Friedhöfe in ganz Österreich zuständig ist, zuzuwenden. Friedhöfe bekommen dann bestimmte Mittel ausbezahlt – unter der Voraussetzung, den Betrag selbst noch einmal zu verdoppeln.

"Dass die IKG das alleine stemmt, ist völlig illusorisch", sagt Kickert. Deshalb soll der Verein zusätzlich Spenden lukrieren. Auch die Stadt Wien leistet einen Beitrag. Zusätzlich treffen sich auch regelmäßig Freiwillige, um Schadensbegrenzung vor Ort zu betreiben und zumindest Teile des zwei Hektar großen Areals von ärgsten Verwucherungen zu befreien.

Restaurierung nur begrenzt möglich

Betritt man den Friedhof, sieht man auf der linken Seite einen großen Erdhaufen. Er ist Ergebnis von Abgrabungen des Bodens auf historisches Niveau, um festzustellen, ob sich darunter noch etwas befindet. Dahinter erstreckt sich die lange Friedhofsmauer, die von zwei Arbeitern mit neuen Ziegeln bestückt wird.

Krieg, Nazis und Vernachlässigung haben Spuren hinterlassen.
Foto: Robert Newald

Etwa 7.500 Grabsteine befinden sich hier. Manche sind verschwindend klein, andere besitzen aufwendige Verzierungen. Die Restaurierung der Steine werde nur bis zu einem gewissen Grad möglich sein, sagt Kickert. Jeder Stein wurde bereits vermessen und katalogisiert – im Idealfall sollen diese irgendwann einmal digital zugänglich sein.

Spaziert man durch das Areal, begegnen einem immer wieder berühmte Namen. "Hier liegen Leute begraben, die das Wien mitgeprägt haben, auf das wir uns heute berufen", sagt Kickert. Auf den Grabsteinen findet man Namen wie Epstein, Ephrussi oder Von Hofmannsthal. Durch die Steine repräsentiert sind vor allem die toten Juden aus der Mittel- und Oberschicht. Die Armen konnten sich keine Grabsteine, sondern nur Metall- oder Holztafeln leisten, die heute nicht mehr vorhanden sind. 30.000 Menschen wurden hier insgesamt begraben. Vorrangiges Ziel sei, den Menschen die hier bergraben sind, sozusagen wieder ihr Gesicht zurückzugeben, sagt Kickert.

Durch den Friedhof werden regelmäßig Führungen angeboten.
Foto: Robert Newald

Zeit drängt

Um auf die Situation aufmerksam zu machen, sucht der Verein nach bekannten Proponenten, die dem Anliegen Bedeutung verleihen sollen. So kam es, dass sich neben der früheren Staatssekretärin Karoline Edtstadler (ÖVP) auch Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) – zu dem Zeitpunkt jeweils noch in Amt und Würden – bei einem Besuch am Friedhof fotografieren ließen. Beide versprachen vor Journalisten, sich für mehr finanzielle Mittel einzusetzen.

Einmal im Monat kommt Schober-Bendixen her. Als sie das erste Mal hier war, seien ihre Verwandten für sie gewissermaßen lebendig geworden, sagt sie. "Das hier ist einfach ein total besonderer, verwunschener Ort." Die Zeit, diesen zu erhalten, drängt. Bereits jetzt sind viele Grabsteine aus Sandstein bis zur Unkenntlichkeit abgewittert. (Vanessa Gaigg, 12.7.2019)