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Mädchen in einer improvisierten Bücherei auf Haiti im Jahr 2010.

Foto: AP/Arnulfo Franco

Ich werde in diesem Sommer wieder kaum zum Lesen kommen. So geht es mir seit Jahren. Es liegt an der familiären Situation und den daraus resultierenden eher geschäftigen Urlauben. Aber auch – so ehrlich will ich doch sein – am Zeitfresser "Social Media".

Das war mal anders. Mindestens 25 Jahre lang kannte ich keine größere Leidenschaft als das Lesen. Bücher waren mein Fenster zur Welt und gleichzeitig meine Flucht vor dieser. Wenn man in einem winzigen Dorf groß wird, ist die Schulbücherei schnell ausgelesen. Zu Hause gab es keine Bücher. Aber es gab eine Familie, die viel Verständnis für meinen Lese- und Bildungshunger hatte. Die nächste Buchhandlung war zwanzig Kilometer entfernt und meine Wunschliste immer lang. Besonders in den Sommerferien.

Im Sommer 1992 war es nicht anders. Anders war nur, dass es keine richtigen Ferien waren. In der ersten Aprilwoche hatte in Bosnien und Herzegowina offiziell der Krieg angefangen, und das Schuljahr war für mich und meine Mitschüler abrupt zu Ende gegangen. Anfang Juni saß ich schon in Wien und hatte nur einen Gedanken: "Wenn du jetzt nicht schnell Deutsch lernst, sind all die schönen Zukunftspläne dahin."

Demjenigen oder derjenigen, die mir gezeigt hat, wo die städtische Bücherei war, bin ich bis in alle Ewigkeit dankbar. In meinem kleinen Koffer hatte ich neben ein paar Musikkassetten auch Bücher mitgenommen. Ich hatte nicht mehr die Gelegenheit gehabt, Erich Kästners "Das fliegende Klassenzimmer" in die Schulbibliothek zurückzubringen. Und so lag das Buch in Serbokroatisch auf einem Mehrzwecktisch in Ottakring, daneben das Original auf Deutsch. Und ich legte los.

Das hört sich jetzt beinahe wie eine Bildungsbiografie aus dem 19. Jahrhundert an, dürfte aber unter Arbeiter- oder Migrantenkindern nicht ganz untypisch sein. Vor wenigen Tagen rührte mich die Journalistin und Deutschlehrerin Melisa Erkurt beinahe zu Tränen, als sie in einem "Report"-Beitrag erzählte, dass sie als Kind auch viel gelesen und auf diesem Weg den Bildungsaufstieg geschafft hat. Ihren Schülern, in der Mehrzahl Migrantenkinder aus Arbeiterhaushalten, erzählt sie nun bei jeder Gelegenheit, wie wichtig Lesen sei.

Und während ich sehnsüchtig auf meine ungelesenen Bücherstapel schaue, kommen mir die Wiener Kinder in den Sinn, die zu Hause weder Bücher noch einen eigenen Schreibtisch haben. Ich wünsche ihnen allen jemanden, der sie motiviert und so versteht wie Erkurt ihre Schüler und Schülerinnen. Ich wünschen ihnen einen Sommer voller Bücher und ehrgeiziger Pläne! (Olivera Stajić, 9.7.2019)