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Fleißig Meister Adrian Tchaikovsky war zuletzt: Fast gleichzeitig sind auf Englisch die Fortsetzung zu seinem beliebten Roman "Die Kinder der Zeit" (erscheint schon Anfang Dezember auf Deutsch) und diese Novelle herausgekommen. Ein überraschend düsteres und zugleich sehr dichtgepacktes Werk, das vieles in einem ist: Science Fiction mit einem Big Dumb Object, Horror und eine Robinsonade. Und am Schluss bringt Tchaikovsky noch einmal einen ganz unerwarteten Bezug ein. Ich habe lange überlegt, wie ich den hier Spoiler-frei andeuten kann, und beschränke mich jetzt auf die Aussage: Der Name der Hauptfigur – Gary Rendell – ist bedeutsamer, als man anfangs denken würde. Dann rätselt mal schön!

Das BDO

"Walking to Aldebaran" wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Auf der Vergangenheitsebene lesen wir, wie draußen im Kuipergürtel ein anscheinend künstliches Objekt entdeckt wird, das etwas größer als der Mond und unerklärlich massereich ist. Obwohl sich die Weltpolitik gerade in einer streitbaren Phase befindet, wird eine Expedition zum "Frog God" geschickt; der Spitzname hat sich eingebürgert, weil der Himmelskörper (siehe Titelbild) eine große und zwei kleine Öffnungen hat und damit einem dümmlichen Gesichtsausdruck ähnelt.

Die Expeditionsteilnehmer schauen aber noch viel dümmer, als sie vor Ort feststellen müssen, dass einem dieses Objekt das "Gesicht" immer zuwendet, egal, von welcher Seite aus man es ansteuert. Zudem ist seine Oberfläche fraktal gestaltet, und die Löcher darin münden in Gänge, hinter denen man andere Sterne sieht. Offenbar handelt es sich bei dem BDO um eine Art Portal. Leider kann man dieses aber nur zu Fuß passieren.

Gary allein zu Haus

Und das führt uns auf die Gegenwartsebene, die parallel zu den Rückblickskapiteln erzählt wird. Seit unbestimmter Zeit wandert Expeditionsmitglied Gary Rendell allein durch die lichtlosen steinernen Tunnels des Gebildes (er spricht von Crypts, also Grüften). Die lange Isolation hat ihn auf eine fast tierische Existenz reduziert: Zu Beginn lesen wir, wie er einen mumifizierten Kadaver anfrisst – es war höchstwahrscheinlich der Leichnam eines außerirdischen Raumfahrers, auch wenn sich im Labyrinth allerhand nicht-intelligente Monstrositäten herumtreiben. Ein solches Monster attackiert Gary mit Händen und Zähnen, und nachdem er es unter Triumphgeheul ausgeweidet hat, philosophiert er augenzwinkernd: I am British, after all, and I feel my behaviour may have crossed some subtle line of etiquette.

Wir haben es also mit einem Ich-Erzähler zu tun, der uns einige Rätsel aufgibt, uns aber fraglos unterhält. Garys Ton schwankt zwischen Resignation und Galgenhumor – etwa wenn er ein mit Schnäbeln, Stacheln und Sägezähnen bewehrtes Monster als Swiss Army knife from space bezeichnet und sich über some physics assholery ärgert, wenn wieder mal die Umweltbedingungen im Labyrinth auf rätselhafte Weise wechseln. Zu tristen Eindrücken gesellt sich mitunter Klamauk: Einmal etwa betritt Gary kurz eine vom Portal erreichbare Welt, winkt den steinzeitlichen Einheimischen als "Weltraumgott" zu, leiert eine halbherzige Sinn-des-Lebens-Ansprache herunter, die ohnehin niemand versteht, und trollt sich wieder.

Rätsel über Rätsel

Wer sich vorhin übrigens gewundert hat, wie Gary eine nichtirdische Lebensform verspeisen kann: Das ist noch nicht alles, er kommt auch prima mit unterschiedlichen Atmosphären zurecht. Irgendetwas hat ihn an ein Leben unter extremen Bedingungen angepasst – was das war, ist eines der Rätsel, die uns beim Lesen beschäftigen werden. Handelt es sich dabei einfach nur um eine super Serviceleistung der Portalbauer oder steckt etwas anderes dahinter?

Und dazu kommen jede Menge weitere Fragen. Was hat es mit dem "Kratzen" auf sich, das Gary ständig in seinem Kopf spürt und das in ihn in eine bestimmte Richtung zu lotsen scheint? Wie und warum wurde er vom Rest der Expedition getrennt? Wird er jemals wieder aus dem Labryrinth herauskommen? Und was ist überhaupt der Sinn des Portals? Anfangs waren die Expeditionsmitglieder noch optimistisch, dass es sich um eine freundlich zur Verfügung gestellte Infrastruktur handeln würde, die die Galaxis verbinden soll. Doch einer zieht den wenig schmeichelhaften Vergleich, dass ja auch Ratten durch Lüftungsschächte kriechen können und sich trotzdem kein Architekt Gedanken um deren Bequemlichkeit macht, wenn er ein Gebäude entwirft.

I feel like, in coming out here, we're bleeding our culture, the humanness of us, out into the void. How can what we are survive contact with the Crypts? Diese Frage treibt Gary im Angesicht einer Größe, die die Grenzen des menschlichen Vorstellungsvermögens sprengt, um. Damit einhergehend wird es einen Twist geben, auf den es im Rückblick betrachtet zwar zahlreiche Hinweise gab, der dann aber doch überraschend kommt. Viel Spaß!