Die üblichen Verdächtigen (Krawallzeitungen, FPÖ, Sebastian Kurz) föhnen wieder das Thema "Flüchtlingswelle" hoch. Wie ein Blick in Internetforen, auch in jene des STANDARD, zeigt, gibt es eine Menge Leute, die kein realistisches Bild der Situation haben. Deshalb hier der Versuch, ein paar grundlegende Fakten darzulegen. Gestützt auf eigene Wahrnehmungen im "Flüchtlings-Hotspot" ostägäische Inseln, auf Gespräche mit Helfern, Experten und Betroffenen und auf zahlreiche seriöse Berichte in seriösen Medien.

Fakt Nr. 1: Es gibt derzeit keine Flüchtlingswelle im Mittelmeer. Über die alte Route aus der Türkei auf die ostägäischen Inseln kommt so gut wie niemand mehr. Was derzeit Aufmerksamkeit erregt, sind ein paar Dutzend Afrikaner, die es aus Libyen auf deutsche Rettungsschiffe geschafft haben. Weil die Kapitänin eines der Schiffe, Carola Rackete, trotz Verbots einfach in den Hafen von Lampedusa gefahren ist, wurde sie ein internationaler Medienstar. Daraufhin ging die Debatte los, auch in Form eines rechten Shitstorms (besonders widerlich: FPÖ-Politiker Harald Vilimsky, der meinte, Rackete habe sich für Fotos rasiert). Aber die Migration über diese Route ist um 80 Prozent gesunken.

Ein Rettungsring treibt während einer Rettungsübung der freiwilligen Flüchtlingshelfer im Meer.
Foto: Imago/JOKER/AlexanderxStein

Fakt Nr. 2: Was Ex-Kanzler Kurz populistisch fordert, nämlich den Zustrom der Migranten aus Afrika über Libyen zu stoppen, indem man sie nicht mehr durch Rettungsschiffe "anlockt", und die doch Geretteten dann in ein "Transitland" zurückzustellen, ist de facto längst passiert. Die EU hat ihre Seenotrettung komplett eingestellt, es sind nur noch ein paar private Schiffe unterwegs, die fast nirgends mehr anlegen können.

Weit bedeutender ist aber in diesem Zusammenhang, dass der Zustrom hauptsächlich deshalb weitgehend gestoppt ist, weil die EU im Bürgerkriegsland Libyen mit schwerbewaffneten Banden zusammenarbeitet, die a) entweder die Flüchtlinge, die es über die Sahara geschafft haben, in Horrorlager sperren oder b) solche, die von der libyschen Küstenwache (ebenfalls nicht mehr als bewaffnete Banden) aufgebracht werden, in solche Lager bringen. Der Deal der EU (vertreten hauptsächlich durch Italien) mit den libyschen Warlords funktioniert auf horrible Weise: In den Lagern herrschen menschenrechtswidrige, kriminelle Zustände, wie inzwischen Reportagen, EU- und UN-Berichte beweisen. Die Lager auf manchen griechischen Inseln (Lesbos, Samos) sind bei weitem nicht so schlimm, aber schlimm genug.

Fakt Nr. 3: Etliche Poster in Foren fordern, die EU möge a) "Ordnung in die Lager bringen" oder b) "geordnete Lager" an der libyschen Küste einrichten, in denen die Asylanträge abgewickelt werden, ohne die Leute nach Europa bringen zu müssen. Das sind die "Anlandeplattformen", von denen Kurz einmal (uninformiert) geredet hat. Dafür muss man aber eine Landungsoperation mit ein paar Tausend EU-Soldaten gegen bewaffneten Widerstand durchführen und die Lager auf Jahre hinaus militärisch schützen. Viel Glück! Auch andere Länder wie Tunesien denken nicht daran, solche Plattformen auf ihrem Boden zuzulassen.

Fakt Nr. 4: Das Einzige, was bisher halbwegs funktioniert, ist der Deal mit der Türkei, Marokko und einigen westafrikanischen Staaten. 2016 schloss die EU (=Merkel) mit Erdogan einen Vertrag: Er hält die Boote von der Überfahrt ab und bekommt dafür Milliarden für die Million Flüchtlinge, die er im Land hat. Ähnliches gibt es mit Marokko und den Westafrikanern. Mit Libyen gibt es auch so einen Deal, nur ist das kein Staat, sondern ein Haufen von Kriegsverbrechern.

Fakt Nr. 5: Es gibt keine Patentlösung. Das Problem wird bleiben, auch wenn die Panikmache ("20 Mio. Afrikaner vor unserer Tür!") falsch ist. Ahnungslose Phrasen lösen das Problem aber auf keinen Fall. (Hans Rauscher, 9.7.2019)