Mehr Marketing- als Konstrukteursgenie? Wernher von Braun vor einem Bild der Mond-Landekapsel und neben Raketenmodellen.
Foto: Nasa

Unter den 400.000 Personen, die durch ihre Mitarbeit am Apollo-Programm die Mondlandung möglich machten, kam Wernher vor Braun eine besondere Bedeutung zu. Unter der Leitung des Raketeningenieurs wurde die gewaltige Saturn V gebaut, die mit einer Höhe von rund 110 Metern bis heute unübertroffen ist und Neil Armstrong und Edwin Aldrin sicher zum Mond brachte. Von Apollo-Programmleiter Sam Phillips ist das Zitat überliefert, dass die USA den Mond ohne die Hilfe von Brauns wohl eher nicht erreicht hätten – jedenfalls nicht so schnell.

Der Spross einer adeligen deutschen Familie hatte freilich bereits zuvor Wegweisendes vollbracht: Unter seiner Leitung entstand die Jupiter-Rakete, die den ersten US-amerikanischen Satelliten ins All brachte. Er spielte aber auch als früher Visionär und Propagandist einer Reise zum Mond eine zentrale Rolle, die ihm zudem enorme Popularität einbrachte.

Charismatischer Kommunikator

"Dr. von Braun Says Rocket Flights Possible to Moon" titelte eine Zeitung bereits im Jahr 1950. Fünf Jahre später trat der charismatische Kommunikator in zwei TV-Dokumentationen Walt Disneys auf. Der erste Film "Man in Space" ist bis heute die zweiterfolgreichste Sendung der US-Fernsehgeschichte. Mit "Man and the Moon", ebenfalls 1955, nahm von Braun nun auch für das Fernsehpublikum die erste bemannte Reise zum Mond vorweg.

Erfolgreiche Kooperation – auch dank ideologischer Affinitäten? Walt Disney (links) und Wernher von Braun (rechts).
Foto: Nasa

Hatte bis zu dieser Zeit die nötige Unterstützung gefehlt, diese Pläne zu verwirklichen, änderte sich die Lage mit dem Sputnik-Schock Ende 1957 schlagartig: Ein Jahr später wurde die US-Weltraumagentur Nasa gegründet, und schon 1959 wechselten von Braun und sein riesiges Team, das mit der Redstone die erste atomar bestückte Mittelstreckenrakete der Welt entwickelt hatte, von der U.S. Army zur Nasa. Fortan sollten sie für die US-Raumfahrtbehörde an Trägerraketen arbeiten, mit denen schließlich die Mondlandung möglich wurde.

Belastende Vorgeschichte

Diese Heldensage vom genialen Raketenmann war schon damals ein wenig von seinem Vorleben in Nazideutschland überschattet. Schließlich war von Braun NSDAP- und SS-Mitglied gewesen und im Jahr 1937 mit nur 25 Jahren zum technischen Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom aufgestiegen. Dort hatte er das Aggregat 4 mitentwickelt: jene Rakete, die als V2 (V wie Vergeltungswaffe) rund 8.000 Menschen tötete, die meisten davon Zivilisten in London und Antwerpen.

Als von Braun mit seinem Team von über 100 Experten im Rahmen der geheimen "Operation Paperclip" 1945/46 in die USA verfrachtet wurde, waren die NS-Verstrickungen Wernher von Brauns in das NS-Regime vom Geheimdienst zwar geprüft worden, doch das nützliche Wissen der damals weltweit führenden Raketentechniker wog schwerer als deren politische Gesinnung und mögliche Verwicklungen in Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Das Peenemünde-Team mit über 100 Raketeningenieuren 1946 in den USA. Der siebente von rechts in der ersten Reihe ist Wernher von Braun.
Foto: Nasa

Diesen doppelten Opportunismus – sowohl Wernher von Brauns wie auch der US-Politik – machte der bitterböse Liedermacher Tom Lehrer 1965 zum Thema eines seiner legendären Songs und folgender vier oftzitierter Verse: "'Once the rockets are up / who cares where they come down. / That's not my department', / says Wernher von Braun." Und gleich danach heißt es, dass er nicht einmal die Stirn runzelt, wenn man ihn einen Nazi nennt.

Tom Lehrers frühe sarkastische Abrechnung mit Dr. Wernher von Braun und dem Apollo-Programm ("20.000 million dollars to put some idiot on the moon"). Letzteres kostete sogar 23.900 Millionen US-Dollar, das sind weit mehr als 100 Milliarden Euro nach heutigem Wert.
The Tom Lehrer Wisdom Channel

Selektive Erinnerung

Wernher von Braun und seine Kollegen hatten sich denn auch längst ihre eigene Version der Geschichte zurechtgelegt. Sie redeten sich damit heraus, dass sie von der SS zwangsweise in das Raketenprogramm der Nazis eingebunden worden seien und eigentlich immer nur die Raumfahrt im Auge gehabt hätten. Und sie hätten in Peenemünde, wo sie ihre Pläne zeichneten, von den unmenschlichen Bedingungen bei der Raketenmontage, die in einer unterirdischen Stollenanlage des KZ Mittelbau-Dora in Thüringen erfolgte, nichts mitbekommen. "Ich möchte nachdrücklich feststellen, dass ich während meiner Besuche nie einen Gefangenen sah", gab von Braun noch im Jahr 1966 zu Protokoll.

Das wahre Ausmaß seiner aktiven Beteiligung am NS-System kam erst ans Tageslicht, nachdem Wernher von Braun im Jahr 1977 gestorben war und nachdem wenig später Arthur Rudolph, einer seiner engsten Mitarbeiter, wegen der möglichen Beteiligung an NS-Verbrechen seine US-Staatsbürgerschaft verlor und nach Deutschland zurückkehrte.

Wie der deutsche Politikwissenschafter Rainer Eisfeld 1996 in seinem Buch "Mondsüchtig" zeigte, hatte sich von Braun gegenüber Hitler mehrfach dienstbar gemacht. Und der Ingenieur war bei der Auswahl der Häftlinge eingebunden, von denen bis zu 20.000 einen grausamen Tod starben – viele von ihnen erst unmittelbar vor der Befreiung des Konzentrationslagers.

Tote Häftlinge in den Häftlingsbaracken Mittelbau-Dora, aufgenommen am 11. April 1945 nach der Befreiung des Lagers durch die US-Alliierten.
Foto: Library of Congress

Zudem kamen im Lager Redl-Zipf in Oberösterreich, wo ebenfalls an Teilen der V2 gearbeitet wurde, 267 KZ-Insassen ums Leben. Die Rakete wurde damit zu jener Waffe, deren Produktion mehr Opfer forderte als ihre Einsätze, wie der US-Wissenschaftshistoriker Michael Neufeld trocken bilanzierte, der die bisher umfangreichste Biografie über von Braun ("Visionär des Weltraums – Ingenieur des Krieges", dt. 2009) vorlegte.

Verdacht der Hochstapelei

Dass mit diesen Arbeiten tatsächlich schon alles über die dunklen Flecken des Raketenmanns bekannt ist, darf freilich bezweifelt werden. So hat der ehemalige deutsche Politiker Christopher Lauer (Piratenpartei, SDP) für seine im Vorjahr abgegebene Bachelorarbeit (hier als PDF abrufbar) in Wissenschafts- und Technikgeschichte den Karrierebeginn von Brauns genauer unter die Lupe genommen und auch noch den Mythos vom "Raketenwunderkind" entzaubert.

Lauer, der seine Recherchen Anfang des Jahres in einem langen Essay in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" präsentierte, stieß bei seinen Recherchen nämlich auf zahlreiche Unregelmäßigkeiten rund um von Brauns Studium, die den Biografen bisher entgangen waren. Die neuen Dokumente legen in der Interpretation Lauers nämlich nahe, dass die technischen Fähigkeiten des jungen Raketenenthusiasten bisher deutlich überschätzt worden sind, dass seine Dissertation 1934 zum Teil plagiiert ist und überhastet mit der damaligen Bestnote beurteilt wurde.

Karriere dank väterlicher Interventionen?

Lauers Schlussfolgerungen: Der Beginn der Karriere von Brauns dürfte weniger auf seine angebliche Genialität zurückgehen als auf Interventionen seines Vaters, der Minister in der Weimarer Republik war, sowie auf Fürsprachen von Mitarbeitern des Heereswaffenamts, für das er in dieser Zeit tätig war. Die Legende vom genialen Raketenkonstrukteur ist damit für Lauer ebenso wenig haltbar wie die vom unpolitischen Ingenieur, der nichts vom Sterben in den KZ-Außenlagern wusste.

Was also bleibt von Wernher von Braun? Dass er ein exzellenter Forschungsmanager und Kommunikator war, wird man dem Raketenmann schwer absprechen können. Aber eben: mit Makeln. (Klaus Taschwer, 12.7.2019)