Viola Bachmayr-Heyda, aufgewachsen im Montafon, "wo man rundherum nur Berge sieht", betreibt jetzt in Wien-Josefstadt ein Café.

foto: regine hendrich

Wien/Großpetersdorf – Viola kam zum Kuchenbacken aus Vorarlberg nach Wien. In der Vitrine hinter ihr stehen die Resultate: Esterhazyschnitten und Punschkrapferln, die Klassiker der österreichischen Süßspeisenwelt. Gleich in der Etage drüber veganer Cheesecake – typisch achter Bezirk.

Georg wiederum lebt seit seiner Geburt in einem 4.000-Einwohner-Ort im Südburgenland. Dort bewirtschaftet er seinen Hof, dort pflügt er Äcker, sät Mais, drischt Weizen und erntet Soja. Dort will er nicht weg.

Eine Lehre in der Heimat wäre für Viola keine Option gewesen, für Georg ist es keine Option, zu gehen. Die beiden jungen Erwachsenen illustrieren damit eine Entwicklung, die Statistiker seit Jahren beschäftigt. Ist Landflucht weiblich? Das hängt mitunter davon ab, was man als "das Land" sieht.

Junge gehen, Ältere gehen zurück

Laut Daten der Statistik Austria scheint sich die Landflucht nicht nach dem Geschlecht, sondern nach dem Alter zu richten. Eine Karte, die die Binnenwanderung nach Altersgruppen illustriert, zeigt: Der Binnenwanderungssaldo unter den 18- bis 26-Jährigen ist umso positiver, je näher man sich einem Ballungszentrum nähert. Oder: Junge gehen in die Stadt.

Foto: Statistik Austria

Aber schon in der nächsthöheren Altersgruppe, jener der 27- bis 39-Jährigen, wechseln die Farben auf der Karte, sie illustrieren ein Bild der Stadtflucht. Anders gesagt: Ältere zieht es ins Umland.

Foto: Statistik Austria

In Summe verließen, auch das zeigen die Daten der Statistik Austria, sogar mehr Männer ihre sogenannten ländlichen Gemeinden, fast 17.000 waren es im Jahr 2018. Von den Frauen gingen knapp 16.000 in sogenannte urbane Zentren. Umgekehrt wanderten aber auch über 15.000 Männer und fast so viele Frauen aus urbanen Zentren in den ländlichen Raum. Rechnet man also die Abwanderer und die Zuwanderer gegen, verloren ländliche Gegenden 1.652 Männer und 902 Frauen.

Foto: Statistik Austria

Nur zum Kofferpacken in Vorarlberg

Wenn Viola Bachmayr-Heyda über ihre Abwanderung spricht, dann lächelt die 30-Jährige. Sie spricht in deutlichem, ruhigem Hochdeutsch, keine Silbe erinnert an das Vorarlbergerische. Die zerzausten, dunklen Haare hält ein Stirnband aus dem Gesicht, eine bunte Schürze hängt über der Jeans. Vor zehn Jahren, nach der Matura, arbeitete sie vier Monate im Norden Ugandas im Waisenhaus. Danach kam sie nur noch zum Kofferpacken nach Vorarlberg.

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Viola im Montafon. "Dort, wo man rundherum nur noch Berge sieht", sagt sie. Das Tal war ihr zu eng und zu klein, die Berge waren zu nah. Also ging sie nach Wien, fand eine Stelle im Café Central, später war sie Chef-Pâtissière bei Joseph-Brot. Seit September betreibt sie ihr eigenes Café in der Josefstadt. "Wien ist anders, auch von dem her, was man lernen kann", sagt Viola. "Es gibt schon in Vorarlberg auch Konditoreien, aber die sind viel limitierter in dem, was sie anbieten."

Seit sie von zu Hause weg ist, war sie nur einmal eine Woche am Stück in Vorarlberg, seit einem Jahr gar nicht mehr. Ihre Familie lebe zwar noch dort, aber Freunde habe sie keine mehr im Ländle, sagt sie, die wären längst auch in Wien.

Frauen gehen aus strukturschwachen Gemeinden

Etwa die Hälfte der Abwanderungen würde, wie in Violas Fall, aus Gründen der Ausbildung passieren, jeweils etwa ein Viertel wegen des Arbeitsplatzes oder aus persönlichen Motiven, sagt Gerlind Weber. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2012 leitete Weber an der Universität für Bodenkultur das Institut für Raumplanung und ländliche Neuordnung. Eine ihrer Publikationen trägt den Titel: "Wenn die Frauen gehen, stirbt das Land."

Die umstrittene Frage, ob Landflucht weiblich ist, beantwortet Weber mit Ja. Sie sagt: "Generell wandern beide Geschlechter viel, doch gerade aus strukturschwachen Räumen haben sich sehr viele Frauen auf den Weg gemacht." Das liege an sogenannten Push- und Pullfaktoren. Die Pushfaktoren schubsen Menschen weg aus der Heimatgemeinde. Die Pullfaktoren halten sie einerseits zurück in ihrer Heimat, sorgen aber andererseits auch für die Anziehungskraft der Städte.

Dazu würden persönliche Faktoren kommen, in vielen Fällen auch beziehungstechnische. "In unseren Breiten ist es oft so, dass die Frau dem Mann nachfolgt", sagt Weber, "die Landflucht ist also nicht nur als Befreiungsschlag zu interpretieren, sie macht auch traditionelle Muster sichtbar." Prinzipiell aber steige die Flexibilität: Wer einmal geht, muss nicht für immer weg sein.

Mit den Frauen fehlt die nächste Generation

Wenn Frauen aus einer Region flüchten, zieht das einen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich: Sie nimmt mit möglichen ungeborenen Kindern auch die nächste Generation mit fort. "Außerdem haben Frauen viele Funktionen, die sonst nur den Männern bleiben würden", sagt Weber, "sie übernehmen Betriebe und Höfe, sie sind Erbinnen, Konsumentinnen, Partnerinnen, Pflegerinnen – sie sind der Kitt, der die Dorfgemeinschaft zusammenhält."

Aber warum sind die Männer wanderungsfauler – zumindest in manchen Regionen? Laut Weber, weil sie einerseits oft die Übernehmer eines elterlichen Betriebs sind, andererseits aber auch, weil sie dank Freunden oder Vereinen stärker ortsangebunden seien. Und: "Sie wollen sich weniger ambitionierte Ausbildungswege aneignen", so Weber.

Dorfromantik im Südburgenland

Georg Schoditsch, 29, lebt im südburgenländischen Großpetersdorf: Keine 4.000 Einwohner, drei Autobahnabfahrten jeweils eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt, einen Bahnhof gibt es nicht.

Als "verwurzelt" bezeichnet der Landwirt sich, seine Region als "gemütlich und langsam" – auch wenn er in manchen Sommerwochen hundert Stunden arbeitet. "Bei uns sitzt man bei 38 Grad auch mal mit den Nachbarn am Bankerl und trinkt einen Spritzer", sagt er. Er schätzt die Dorfromantik, die Entschleunigung, die Abende, an denen er mit Freunden im Heizkeller sitzt und sich austauscht.

Wenn die nächste U-Bahn in zwei Minuten kommt und trotzdem alle in die Waggons drängeln, ist das nicht seine Welt. Weil er auf der Boku studiert, kennt Georg auch Wien. So wie er dasitzt, blaues Hemd, Ray-Ban-Brille, könnte man ihn auch für einen WU-Studenten halten. Nur die großen, rauen Hände brechen das Klischee.

Wien ist zu "schnöll"

Wenn Georg über die Stadt spricht und das Wort "schnell" sagt, dann sagt er eigentlich "schnöll", man hört die Nähe zur Steiermark im burgenländischen Akzent. Seine Welt sind der Sportverein, die Pfarrgemeinde und die Landjugend, samt der damit verbundenen Pflichten – vom Schankbetrieb bei Vereinsfesten bis zu gesellschaftspolitischem Engagement als Bundesvorstandsmitglied bei der Landjugend.

Dass die Frauen fehlen, merkt auch er. Und er versteht, warum. "Du hast wenige Angebote bei uns, wenn du mal in Wien studieren warst", sagt er. "Ich kenn zum Beispiel keinen Yoga-Kurs bei uns in der Gegend, und das richtet sich ja schon eher an Frauen." Auch Betreuungsangebote für junge Familien würden fehlen. In der Gegend gebe es viele "Wochenendmädls", die unter der Woche in Graz oder Wien studieren seien.

Seine Sorge ist, dass irgendwann "Flyover States" entstehen, wie man sie aus Amerika kennt – kleine Dorfinseln mit leeren Landstrichen dazwischen. "Wenn wir nicht schauen, dass wir die ländliche Region attraktiver machen, müssen wir aufpassen, dass die Gegend besiedelt bleibt", sagt er.

Von Wien ans Meer

Im Kaffeehaus von Viola, der Frau, die ging, verteilt eine Discokugel das Sonnenlicht über die blauen Wände. Manchmal hat Viola wieder Sehnsucht nach Vorarlberg, nach den Bergen, den Bäumen, der Familie. "Aber das hat lange gedauert", sagt sie. Am Tisch nebenan diskutiert ein Paar über Schiller und Woyzeck. Jetzt im Sommer läuft das Geschäft im Café Viola an. Sie wird wohl nicht für immer in Wien bleiben. Doch zurückzugehen kommt trotz Sehnsucht nicht infrage. Ein Bed and Breakfast am Meer, das ist das nächste Ziel. (Gabriele Scherndl, 21.7.2019)