Eine Entführung will gut geplant sein, man macht so etwas schließlich nicht jeden Tag. Unbedingt dazu gehört der Besuch im Baumarkt: Plastikfolie, Drahtseile, Bohrmaschinen sind nötig. Ein Verlies macht sich auch nicht von selber. Wände müssen mit Holzplatten ausgelegt, schalldämmende Schaumstoffmatten festgetackert und schwere Schlösser angebracht werden. Hier kommt keiner mehr raus.

Vic und Tom (Clemens Schick und Max von der Groeben) haben an alles gedacht, um ihr Vorhaben umzusetzen, das sehen wir zu Beginn von Kidnapping Stella – ab Freitag auf Netflix abrufbar. Die Entführung klappt wie am Schnürchen.

Roter Anzug, dunkler Raum

Nachdem die beiden Stella (Jella Haase) überwältigt haben, bringen sie die Junge in das Versteck. Stella wird ans Bett gefesselt, ihre Kleidung mit einer Schere vom Leib geschnitten. Die Entführer stecken sie in einen roten Anzug. Im dunklen Raum und mit den silbernen Handschellen ergibt sich ein aufregendes Bild. Später wird das Entführungsopfer in eine Plastikflasche urinieren, die ihr die Entführer hinhalten. Auch das wirkt im roten Anzug stärker.

Abstoßend brutal ist Kidnapping Stella besonders in den Anfangsszenen aufgrund dieser Ästhetisierung von Gewalt. Thomas Sieben hat den kammerspielartigen Thriller, der an den britischen Film Spurlos – Die Entführung der Alice Creed erinnert, geschrieben und inszeniert.

Kidnapping Stella ist der erste deutsche Spielfilm von Netflix und kein Ruhmesblatt. Der Film sollte ursprünglich im Mai in die deutschen Kinos kommen. Der Kinostart wurde jedoch gestrichen.

Stella (Jella Haase) isst Suppe, später wird sie in eine Plastikflasche urinieren. Der kammerspielartige Thriller "Kidnapping Stella" ist auf plumpe Schockeffekte aus. Ab Freitag auf Netflix abrufbar.

Foto: Netflix

Oberflächlich wird ein beklemmender Psychothriller angedeutet, der mit Schockbildern und Gewalt gegenüber dem weiblichen Entführungsopfer plumpe Effekthascherei betreibt, auch wenn sich am Ende noch alles dreht. Das einzig Gute daran: Nach 90 Minuten ist es überstanden. Kritik, dass Netflix besonders bei der Filmproduktion schnell konsumierbare Massenware wie am Fließband produziert, wird mit Kidnapping Stella vorerst nicht verstummen.

Und obwohl es im Serien- und Filmkosmos mit Stranger Things und Murder Mystery im Moment gerade wieder recht rund läuft für den Streaminganbieter, lässt die Zukunft des Streamingriesen Hürden erwarten. Neben etablierten Rivalen wie Netflix, Amazon und Hulu drängen neue Player in den Markt. Erst diesen Mittwoch kündigte Warner mit HBO Max ein Streamingangebot mit mehr als 10.000 Stunden Programm für das Frühjahr 2020 an.

Für Netflix ist das mit schmerzlichen Verlusten verbunden: Warner sichert sich die Lizenzen von allen 236 Folgen von Friends. Für die Ausstrahlungsrechte der Kultserie bis Ende 2019 zahlte der Onlineriese erst vor wenigen Monaten 100 Millionen Dollar.

HBO Max soll mit Inhalten von HBO starten – etwa Game of Thrones und Big Little Lies, aber ebenso Programm der Warner-Netzwerke enthalten, etwa von CNN, TNT, TBS, truTV, The CW, Turner Classic Movies, Cartoon Network, Adult Swim, Crunchyroll, Rooster Teeth, Looney Tunes, New Line und DC Entertainment. Ein Abo von HBO Max kostet monatlich 16 bis 17 Dollar, also zwischen 14 und 15 Euro.

Ärger über höhere Preise

Noch größer grätscht Disney hinein: Im Herbst geht der Mediengigant in den USA mit Onlineangebot und Abos um günstige 6,20 Euro pro Monat an den Start. Zwischen 60 und 90 Millionen Abonnenten sollen bis 2024 gewonnen werden. Netflix verkauft weltweit 155 Millionen Abos, aktuell in den USA 60 Millionen.

Für Verärgerung unter den bestehenden Abokunden sorgen jüngste Preissteigerungen: In fünf Jahren erhöhte Netflix die Abopreise fünfmal und verlangt zwischen 7,99 und 15,99 Euro pro Monat. Der Plafond des Zumutbaren scheint erreicht: Laut Umfragen sind Kunden nicht bereit, mehr zu zahlen.

Mehr Anbieter bedeutet gleichzeitig weniger Inhalte. Disney+ zieht die eigenen Blockbuster wie Star Wars oder die Superhelden des Marvel-Universums systematisch von den konkurrierenden Plattformen ab. Gerüchte, wonach Netflix irgendwann Werbung schalten könnte, tauchen in schöner Regelmäßigkeit auf und werden ebenso beharrlich dementiert.

Noch ist das Jammern auf hohem Niveau: Mit 31 Millionen Zusehern jüngst beim Krimi Murder Mystery und 40 Millionen nur kurz danach bei der dritten Staffel von Stranger Things kann sich Netflix-Boss Reed Hastings zumindest vorerst beruhigt zurücklehnen. Ganz einerlei sollten ihm aber Ausrutscher wie Kidnapping Stella nicht sein. Gegen Imageschäden hilft kein Baumarkt. (Doris Priesching, 12.7.2019)

Warum man "Stranger Things 3" nur lieben oder hassen kann? Hören Sie hier im STANDARD-Podcast Serienreif: