Um ins Visier der nationalsozialistischen Justiz zu geraten, brauchte es nicht viel: Ein kritischer Kommentar über den Kriegsverlauf, das unerlaubte Schlachten eines Schweins, das Kopieren von Lebensmittelkarten oder das Sammeln von Zigaretten aus einem zerbombten Gebäude waren ein ausreichender Grund für Nachbarn, Verwandte und NSDAP-Funktionäre, ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger bei der Gestapo zu melden. Diese wiederum erstattete Anzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft, die bei den oben genannten Delikten die Anklage vor dem Sondergericht erhob.

Patriotisches Gedicht, weitergegeben von Walter D., der hierfür vom Sondergericht Wien zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Wiener Stadt- und Landesarchiv, 2.3.13 Sondergericht, A1 – SHv-Strafakten: Nr. 5152/47.

Gleichschaltung der österreichischen Justiz

Im Deutschen Reich wurden die Sondergerichte direkt nach der Machtübernahme 1933 installiert. Sie sollten in möglichst raschen Verfahren politische Gegnerinnen und Gegner mundtot machen. Ihre Kompetenzen wurde im Laufe der Jahre stetig erweitert, insbesondere nach Kriegsausbruch, als sie unter anderem auch für die "Kriegswirtschaftsverordnung" zuständig wurden. Nach 1939 wurden immer öfter hohe Zuchthausstrafen und die Todesstrafe verhängt.

Nach dem Anschluss ans Dritte Reich übernahm vorerst ein spezieller Senat am Oberlandesgericht Wien die sondergerichtlichen Aufgaben im ehemaligen Österreich. Die Kompetenzen des Senats wurden 1939 an die Landgerichte abgegeben, bei denen im Frühjahr 1940 eigenständige Sondergerichte eingerichtet wurden. Besetzt werden sollten sie mit besonders zuverlässigen (großteils österreichischen) Richtern. Ihnen oblag die Stigmatisierung von abweichendem Verhalten und damit der Ausschluss von "Volksgenossen" und "-innen" aus der "Volksgemeinschaft".

Differenzierung der "Volksgenossen" und "Volksgenossinnen"

Die nationalsozialistische Idee der "Volksgemeinschaft" war getragen von rassistischem und rassenhygienischem Denken: Alle "Deutschstämmigen" konnten Teil der völkischen Gemeinschaft sein, wenn sie sich ihrer als würdig erwiesen. "Fremdvölkische" wie Juden und Jüdinnen, politisch Andersdenkende, Behinderte, "Arbeitsscheue", als "asozial" Kategorisierte und Homosexuelle wurden aus ihr exkludiert. Sie wurden zu Menschen zweiter Klasse degradiert, überwacht, weggesperrt, gequält, getötet.

Die NS-Justiz beurteilte die von ihr Verfolgten umfassend, nicht nur anhand ihres Stammbaums, sondern auch aufgrund ihres Berufs, ihrer Konfession oder ihres Sexlebens. Auch vor dem Sondergericht Wien dürften diese informellen Beurteilungskriterien eine große Bedeutung bei der Urteilsfindung und für das Schicksal der Angeklagten gehabt haben.

Rudolf B. wurde vom Sondergericht Wien wegen einer "heimtückischen" Äußerung zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv, 2.3.13 Sondergericht, A1 – SHv-Strafakten: Nr. 5562/47.

Die Handlungsoptionen der Betroffenen

Nicht vergessen werden darf dabei, dass nicht nur die Denunziantinnen und Denunzianten und Beamtinnen und Beamten, sondern auch die Verfolgten sich der Idee der "Volksgemeinschaft" bedienen konnten. Wollten sie einer harten Strafe entgehen, hatten sie sich als vorbildliche Anhängerschaft des Nationalsozialismus und wertvolles Mitglied der deutschen Gemeinschaft zu inszenieren. So sind auch die Aussagen des Pfarrers Alois D. zu werten, der bei seinem Verhör angab, er würde immer nach dem Grundsatz "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" handeln. Er wurde dennoch vom Sondergericht Wien zu vier Jahren Haft verurteilt, die er nicht überlebte.

Insbesondere bei Verstößen gegen die "Kriegswirtschaftsverordnung" dürfte es schwierig gewesen sein, die Straftat als uneigennützig darzustellen. "Schwarzschlachtungen" standen an der Tagesordnung des Sondergerichts Wien. Lebensmittel und Rohstoffe waren streng rationiert, wer die Deckung des "lebenswichtigen Bedarfs" der Bevölkerung gefährdete, verging sich an der "Volksgemeinschaft".

So leistete die "Wahrheitsfindung" vor Gericht ihren Teil zur Repression der Bevölkerung und Verwirklichung der "Volksgemeinschaft". Durch die Ahndung selbst geringfügig abweichenden Verhaltens wurden den Menschen in ihrem Alltag enge Grenzen gesetzt. Wer sich nicht anpasste, wurde streng bestraft. (Gabriele Hackl, 19.7.2019)