Adel-Naim Reyhani, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte, erweitert unsere Reihe der Gastkommentare zu Migration und Seenotrettung. Reyhani widmet sich in seinem Gastkommentar dem Aspekt der irreführenden Diskurse, die den Blick auf Wesentliches verstellen.

So dringlich die Frage auch sein mag, wie wir mit jenen umgehen, die vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet werden oder selbst andere retten, die Hoffnung auf rasche Lösungen ist vergebens und die Debatte darüber irreführend. Denn in der Herausforderung im Umgang mit Fluchtbewegungen, an die wir durch die aktuellen Ereignisse erinnert werden, manifestiert sich letztlich vor allem die Desintegration einer mangelhaften internationalen Ordnung.

Wenn es eines der unzähligen Dramen, die sich seit Jahren vor den Toren Europas abspielen, wieder auf die internationale mediale Bühne schafft, folgt die anschließende Debatte einem bekannten Muster. Die Spannung zwischen widersprüchlichen Narrativen wird aufgebaut und die Vertreter beider Seiten nehmen eilig ihre Positionen ein. Gut eingespielte politische Akteure zerren ihre Zielgruppen zwischen Mitgefühl und Angst hin und her. Rasche, einfache Lösungen werden angeboten, um den Anschein von Kontrolle und politischer Gestaltungskraft aufrechtzuerhalten.

Verkürzte Diskurse

Es ist allzu leicht, in den Sog einer solchen Debatte zu geraten und von der Unmittelbarkeit und Dringlichkeit der Sache eingenommen zu werden. Und sicher ist dies nicht nur dem Diskurs geschuldet. Denn das reale Leid Hunderttausender und die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Irritationen bewegen uns. Aber ist es nicht gerade das Flüchtlingsthema, das am besten mit gewissem Abstand betrachtet werden sollte?

Die aktuelle Diskussion um Seenotrettung ist beispielhaft für eine verkürzte Auseinandersetzung. Schnell fokussierte sie sich auf die Person einer Kapitänin, man hob sie entweder als Heldin empor oder wollte sie am liebsten hinter Gittern sehen. Die Tat, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, verdient natürlich Respekt. Doch die Reduzierung des Themas verdeckt gleichzeitig den Blick auf Wesentliches: Beispielsweise weiß bis heute selbst der aufmerksame Beobachter nicht, welche Personen sie eigentlich gerettet hatte, was diese dazu gebracht hatte, in ein kaum seetaugliches Boot zu steigen, und ob der eine oder andere unter den Geretteten nicht auch etwas zur Debatte hätte beitragen wollen. Darüber könnten wir reden.

In der Seenotrettungsdebatte um die Sea-Watch 3 und Kapitänin Carola Rackete haben die Geretteten keine Stimme.
Foto: Sea-Watch / Till M. Egen

Kein Platz in der Welt

Doch wenn ich hier eine gründlichere Betrachtung des Themas anregen möchte, ziele ich auf eine noch tiefere Ebene ab. Eine Ebene, die mit der Frage zusammenhängt, wie wir uns politisch organisiert haben. Wie die Welt so geworden ist, dass manchen von uns kein Platz mehr in einer funktionierenden Gemeinschaft, sondern nur noch am Meeresgrund zusteht.

Tatsächlich ist die heute vorherrschende Konzeption der Figur des Flüchtlings eng mit den Mängeln der internationalen politischen Ordnung verbunden. Sie entstand als Antwort auf einen sich beschleunigenden Desintegrationsprozess, in dem sich eine vom Nationalismus erschütterte Menschheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befand.

Für den Flüchtling war auch in jener Welt kein Platz vorgesehen. "Ein Flüchtling ist eine Anomalie im Völkerrecht", befand die Internationale Flüchtlingsorganisation noch 1949, "und es ist oft unmöglich, mit ihm in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften umzugehen, die für Ausländer gelten, die von ihren nationalen Behörden Unterstützung erhalten". So wurde 1951 schließlich die Genfer Flüchtlingskonvention mit dem Ziel etabliert, jenen einen Rechtsstatus zukommen lassen, die aufgrund der Verwerfungen mit ihrem Herkunftsstaat schutzlos geworden waren.

Politische Organisation

Bald siebzig Jahre später lässt ein Blick auf die aktuelle Dimension des Problems kaum ein anderes Urteil zu als jenes, dass die Staatengemeinschaft darin versagte, dieses Vorhaben umzusetzen. Nur ein Beispiel: Laut Berechnungen des UNHCR wären 2019 etwa 1,4 Millionen Flüchtlinge auf eine Neuansiedlung in Aufnahmestaaten angewiesen, während es bis Mai dieses Jahres gerade knapp über 25.000 Personen waren, die von einzelnen Staaten tatsächlich solchen Schutz erhalten hatten.

Dieser Befund erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen als nicht übermäßig überraschend. Denn in der Tat konnten weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch sonstige Instrumente das zugrunde liegende Problem adressieren. "Es war (...) eine Frage politischer Organisation", erkannte Hannah Arendt bereits 1949. "Niemand hatte bemerkt, dass das Menschengeschlecht (...) ein Stadium erreicht hatte, wo jeder, der aus einer dieser geschlossenen politischen Gemeinschaften ausgeschlossen wurde, sich plötzlich aus der gesamten Familie der Nationen ausgeschlossen fand."

Internationale Kooperation

Dass Arendts Analyse heute noch zutrifft, legt dringend nahe, dass die vor uns liegende Problemlage letztlich nur durch eine neue Form weltweiter politischer Organisation, eine neue Qualität internationaler Kooperation zu überwinden ist. Fakt ist, dass heute der Großteil an Fluchtbewegungen direkte Folge des Desintegrationsprozesses ist, der Nationalstaaten befallen hat. Und dass es meist gerade vermeintlich entwickelte Staaten sind, die alles daran setzen, ihrer Verantwortung bei der Bewältigung einer globalen Krise zu entkommen.

Auf diese Realität kann keine noch so gut gemeinte humanitäre Anstrengung und keine noch so ausgefeilte Migrationspolitik einzelner Länder und Regionen angemessen antworten. Die Hoffnung auf rasche Lösungen ist also vergebens und die Debatte darüber irreführend. Es wird vielmehr erkennbar, dass der Tragik der Geschichten jener, die in Seenot geraten oder andere vor dem Ertrinken bewahren, die Mängel einer zerfallenden nationalstaatlichen Ordnung zugrunde liegen.

Darüber könnten auch wir reden. (Adel-Naim Reyhani, 11.7.2019)