Schon länger nicht mehr hier gewesen, aber das Flair von Freiheit und Weite ist sofort wieder da. Klingt wie eine schlechte Zigarettenwerbung, trifft aber zu. Ich kann den Spiegel-Journalisten Nils Minkmar als Zeugen aufrufen. Das geheime Frankreich. Geschichten aus einem freien Land (Hervorhebung von mir) hat er ein instruktives, kurz vor der Buchmesse 2017 (Schwerpunkt Frankreich) erschienenes Buch genannt. Minkmar stammt aus einer deutsch-französischen Familie, hat einen deutschen und einen französischen Reisepass und kennt sich aus.

Der Grund meines Hierseins auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle? Ist ein Arbeitsauftrag. Für einen ALBUM-Schwerpunkt zum 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, soll ich drei Tage durch Paris flanieren, mich umsehen, wahrnehmen, Zeitungen lesen, nachdenken, schreiben, Notizen machen. Es gibt Schlimmeres im Leben als eine solche Bürde.

Sich ein Bild von einem Land machen, heißt das Bild, das man sich von ihm gemacht hat, ständig an neue Gegebenheiten anzupassen. Bei meinen ersten Aufenthalten im Hexagon, die in die 1960er und 1970er zurückreichen, glaubte ich in Frankreich (und anderen romanischen Ländern) eine gewisse ökologische Nonchalance zu orten, welche sich etwa in der entspannten Sorglosigkeit manifestierte, mit der in der Pariser Metro oder den Bistros Abfall auf den Boden entsorgt wurde (kann man am Abend mit dem großen Besen eh schnell zusammenkehren). Sehr beeindruckend für österreichische und andere Provinzler damals! Als ich in den 1980ern mit Schweizer Schülergruppen nach Paris fuhr, reagierten etliche mit der Stadt unvertraute Jungschweizer mit blanker Entgeisterung auf diese Anblicke.

Nachhaltiger Flugverkehr

Die Zeiten ökologischer Nonchalance sind allerdings lange vorbei. In Frankreich ist die Umwelt als Thema omnipräsent, und die mit ihr verbundenen Anliegen werden häufig mit einer großen Stilsicherheit kommuniziert, die sich vom germanischen Biedersinn signifikant unterscheidet. In einem ellenlangen Couloir in der Metrostation Montparnasse weisen derzeit riesengroße, sehr ästhetisch gestaltete Meeresfotografien auf eine Ausstellung hin und instruieren die auf den Laufbändern vorbeirollenden Passanten nebenbei dezent über die Bedeutung des Meeres für den Menschen.

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Impressionen ....
AP / Thibault Camu
... aus Paris.
Foto: Marius Schwarz

Selbst der Flughafen Charles de Gaulle gibt sich ökologisch. In den Wartezonen spielt man über Fernsehmonitore Filme ein, die mit Bildern von blühenden Wiesen und summenden Bienen demonstrieren sollen, wie viel den Flughafenbetreibern an der Artenvielfalt, an der Versöhnung von Ökologie und Ökonomie und einem "developpement durable", einer nachhaltigen Entwicklung, liege.

Honigbienen und Kerosin in einen Zusammenhang zu zwängen mag kühn, wenn nicht gar forciert wirken. Andererseits scheint es doch so zu sein, als machten die Franzosen Nägel mit Köpfen. Von 2020 an wird eine von Emmanuel Macron angeregte Ökosteuer auf jeden von Frankreich ausgehenden Flug fällig, die dem umweltfreundlicheren Bahnverkehr im Land zugutekommen soll.

In Paris gönne ich mir einen Zwischenaufenthalt in einem Bistro an der Metrostation Denfert-Rocherau und genieße von der Terrasse aus das ewige Schauspiel des Straßentheaters. Die Pariser Menschenmassen haben ihr eigenes Renommee, wurden zigfach beschrieben und bedichtet. Anstatt Baudelaire oder Walter Benjamin zu zitieren, zitiere ich eine schöne Formulierung des deutschen Literaturtheoretikers und ehemaligen Merkur-Herausgebers Karl-Heinz Bohrer, der von einer "Offensive des Nichtindividuellen" gesprochen hat, welche so etwas wie Gemütlichkeit gar nicht erst aufkommen lasse. In der Tat, Gemütlichkeit ist keine Pariser Kategorie und keine französische. Der Begriff lässt sich nur gequält ins Französische übertragen.

Sehr warm heute

Die Taxifahrt zu meinem Hotel in Vanves, einem vorstädtischen Viertel im Südwesten, steht ebenfalls unter ökologischen Auspizien. Unter Journalisten ist es verpönt, Taxifahrer als Stichwortgeber ins Spiel zu bringen, ich tue es, weil es gut passt, dennoch, wenn auch mit schamroten Ohren. "Sehr warm heute", bemerke ich beim Einladen meiner Reisetasche in den brennheißen Kofferraum. Stimmt, bestätigt der Taxifahrer, ein Herr, dem ich ruchlos eine nach Nordafrika zurückreichende Herkunftsgeschichte zuschreibe. Er überrascht mich mit dem paradoxen Satz, dass er Hitze sehr gerne möge, nur der Klimawandel gehe ihm gegen den Strich. Aha.

Was denn in Paris gegen den Klimawandel getan werde, frage ich. Es ist eine Frage, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Taxifahrer bricht umgehend in eine Scheltrede gegen die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo aus ("Ah, c'est une chienne", ein fieses Weib ist das), die seit Jahren nichts auslasse, um Leuten wie ihm und Autofahrern allgemein das Leben zu vermiesen.

In diesem Tonfall wettert der Mann weiter und deutet aufgeregt auf die dritte, rechts gelegene und in einen Fahrradweg umgewandelte Fahrspur in der Rue Vercingétorix, wo eine junge Vélofahrerin in einem kurzen weißen Dalmatinerkleid mit großen schwarzen Punkten das Straßenbild angenehm belebt.

Später werde ich in einem Gespräch mit einem Freund bestätigt bekommen, dass Hidalgo – 2020 muss sie sich den Kommunalwahlen stellen – mit ihrer Politik ganz auf die ökologischen Instinkte der Bobos, der vermögenden Pariser Bobos abstellt, Die können sich relativ bequem mit Bus, Metro, Rad oder zu Fuß zwischen ihren Lebens- und Arbeitsbereichen hin- und herbewegen. Weitere Transfers mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem Wohnort in einer, sagen wir, nordwestlichen Banlieue zu einer Arbeitsstelle im Südosten können dagegen gern einmal zwei Stunden oder mehr in Anspruch nehmen.

Nur ein kleiner Teil

Das, was der Tourist gemeinhin mit Paris assoziiert, die zwanzig intra muros gelegenen, schneckenförmig angeordneten Arrondissements mit all den Superattraktionen wie Eiffelturm, Montmartre, Notre-Dame und so fort sind nur ein kleiner Teil des Ganzen. Und definitiv der angenehmere. Von dem, was sich in manchen Banlieues abspielt, erfährt man nichts, und wenn man etwas erfährt, dann aus unerfreulichen Anlässen wie sozialen Krawallen, bei denen die Autos dutzendweise abgefackelt werden.

Der Sänger Renaud Séchan hat das Phantombild der prosperierenden Pariser Jungbourgeoisie in seinem 2006 veröffentlichten, aber in vielen Details nach wie vor gültigen Lied Les Bobos zusammengefasst: Die Bobos fühlen sich als eine Art Halbkünstler, machen ihr Geld in der Digitalindustrie oder in den Medien, leben in den "beaux quartiers", den schönen Vierteln, und wenn sie in der Banlieue leben, dann ausschließlich in einem Loft. Ihre Kinder haben mit sechs Jahren den Kleinen Prinzen gelesen, sie selbst lesen Philippe Dijan oder Houellebecq. Einkleiden tut man sich bei Diesel (die Damen) bzw. Armani oder Kenzo (die Herren), und gewählt wird immer grün: "Ils votent toujours écolo".

Tektonische Verschiebungen

Gentrifizierung heißt eines der Schlüsselwörter zum Verständnis der tektonischen Verschiebungen in der Pariser Gesellschaftsarchitektur. Der Geograf Jean-Pierre Lévy hat die Sache folgendermaßen definiert: "Gentrifizierung ist ein zugleich physisch, sozial und kulturell stattfindendes Phänomen, bei dem eine Sanierung heruntergekommener Baulichkeiten vom Austausch der Arbeiter gegen eine neue Mittelklasse begleitet wird." Das Paris der Vergangenheit, das von Georges Simenon etwa, in dessen Romanen man viel vom Leben der kleinen Leute, der Zimmermädchen, Kellner, Arbeiterinnen und Arbeiter erfährt, war eine sozial buntere Mischung als das Paris der Gegenwart.

Zu den scharfsinnigsten Beobachtern der Stadtentwicklung zählt das Wissenschafterehepaar Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot. Die Pinçons haben die verborgenen Lebenswelten der Pariser Großbourgeoisie untersucht und eine erfolgreiche Sociologie de Paris geschrieben, die vom anhaltenden "embourgeoisement", der Verbürgerlichung und dem korrespondierenden Verschwinden der sozialen Diversität erzählt.

Eines ihrer vielen Bücher lädt zu "fünfzehn soziologischen Spaziergängen" durch die Stadt ein, auf denen sich markante Entwicklungslinien der Gentrifizierung quasi in natura studieren lassen. Das Saint-Germain-des-Prés von heute ist nicht von den intellektuellen Nachfolgern Sartres geprägt, sondern von Dior ("Der Luxus erobert Saint-Germain-des-Prés"). Der Faubourg St. Antoine bei der Bastille, der von den Bataclan-Attentätern im November 2015 als Tatort ausgesucht wurde, war ursprünglich Heimstätte von metallverarbeitenden Handwerkern, Kunsttischlern und Mechanikern. Heute sind dort überwiegend bildende Künstler, Designer und Kommunikationsberater an der Arbeit. Die nahegelegene Rue Oberkampf im elften Arrondissement bezeichnen die Pincons als "Bobo-Hochburg", und zwar als eine, wo vor allem nächtens der Bär los ist. Die Stadt schlägt dem natürlichen Wechsel von Licht und Dunkel frech ein Schnippchen und "zeigt dem Universum, dass sie stärker ist als die Bewegungen der Planeten und der Sterne".

Zur Gänze lassen sich diese soziologischen Spaziergänge natürlich nur von einem Einwohner (oder Langzeitbesucher) von Paris absolvieren, ein Kurzzeitbesucher wie ich muss sich entscheiden. Ich entscheide mich für einen Spaziergang in dem südlich der großen Boulevards gelegenen Textilviertel Le Sentier im zweiten Arrondissement. Der Lärm des Boulevard Bonne Nouvelle verschwindet umgehend, sobald man sich in das verschachtelte Viertel begibt. Die Sonne brennt auf lange, glasüberdachte, einander überkreuzende Gässchen, die auf ihre unübersichtliche Art anheimelnd pittoresk wirken. Beim Blick durch Schaufenster zeigen sich Accessoires, die zu einem Textilviertel gehören: Stoffballen, riesige Bügelbretter und Ähnliches mehr. Ebenso wenig zu übersehen ist, dass auch hier die Gentrifizierung gegriffen hat.

Beim Blick auf die Anschlagtafeln der Immobilienmakler gehen die Augenbrauen ob der Preise zuverlässig hoch. Eine 45-Quadratmeter-Wohnung im Sentier? Wenn sie um 750.000 Euro zu haben ist, scheint man wohl von einem Schnäppchen sprechen zu dürfen. Um bei diesen Preisen mithalten zu können, muss man in der Digitalwirtschaft oder in den Medien ordentlich verdienen. Kein Wunder, dass auch der Pariser Osten, der vor etlichen Jahrzehnten noch als "arme" Zone galt, zunehmend "gentrifiziert".

Unmut des Volkes

Am nächsten Tag, beim Flanieren auf den Champs-Élysées, sehe ich mir auf Nr. 99 das Nobelrestaurant Fouquet's an. Das heißt, zu sehen gibt es in Wahrheit nichts, weil die Gelbwesten hier bei einer Demonstration im März nach Kräften demoliert haben und die Renovierungsarbeiten immer noch im Gange sind. Das doppelreihig von Bauzäunen umringte Promi-Etablissement, wo einst das flamboyante Ehepaar Sarkozy/Bruni seine Hochzeit zelebrierte, darf in seinem gegenwärtigen Zustand als Menetekel für alle gelten, die den Unmut des Volkes ob sich zuspitzender sozialer Ungleichheiten unterschätzen.

Nicht nur mit Renovierungen werden die Folgen der Wut- und Verzweiflungsexzesse der letzten Monate bearbeitet. Auch intellektuell sind die Versuche, das Geschehene zu verstehen und einzuordnen, voll im Gange. Der Historiker Gérard Noriel zeichnet in seinem Büchlein Les Gilets jaunes à la lumière de l'histoire ("Die Gelbwesten im Licht der Geschichte", ein nicht ins Deutsche übersetzter Gesprächsband mit dem Le Monde-Journalisten Nicolas Truong) ein differenziertes Phantombild der Gilets.

Als überwölbendes Phänomen der Bewegung sieht er eine triumphale Wiederkehr der sozialen Frage im Verhältnis zur identitären. Im Zeichen der sozialen Frage vereinen sich Linke und Rechte, Alte und Junge, prekär oder arm Dahinwesende und Intellektuelle, die ein Auskommen haben wie Michel Onfray oder Jean-Claude Michéa.

Noriel bringt andere interessante Fakten ins Spiel. Im Vergleich zu früheren französischen Revolten war die der Gilets jaunes gemessen an der Zahl der Aktivisten klein, sie erstreckte sich zwar über das gesamte Gebiet der "Nation" inklusive Überseegebiete, aber selbst bei den größten Demos waren es weniger als 300.000 ("bescheiden im Vergleich zu früheren Volksdemonstrationen").

Die sozialen Netzwerke spielten bei der Formierung der Proteste eine wichtige, aber überschätzte Rolle, überschätzt vor allem von den Journalisten, meint Noriel: "Damit die Myriaden der in Umlauf gebrachten Meinungen im Netz tatsächlich eine Auswirkung auf die öffentliche Meinung zeitigen, müssen sie von den großen Medien verbreitet werden, das heißt, sie müssen die Schwelle der bloß intermediären öffentlichen Räume überschreiten, um in jenem öffentlichen Raum anzukommen, der von jenen strukturiert wird, die das politisch-mediale Feld dominieren." Noriel sieht Parallelen in der Art, wie Macron an die Macht kam, und den Umständen, unter denen sich die Gilets formierten: Beides geschah "überraschend" und ohne Sukkurs etablierter politischer Parteien.

Kleiner Epilog. Für Spiegel-Journalist Nils Minkmar war die wichtigste Zäsur der vergangenen Jahre in Frankreich der Terroranschlag auf Charlie Hebdo (der Brand von Notre-Dame, das als Baustelle als beliebter Selfie-Hintergrund für die Touristen herhalten muss, fand nach der Fertigstellung seines Buches statt), weil er als ein Zentrum französischen Selbstverständnisses galt. In die Zeit meines Aufenthaltes fällt die Meldung, die New York Times werde keine politischen Karikaturen mehr publizieren. An der Seine, bei Charlie Hebdo und Canard enchainé, kritisiert man dies mit ätzendem Sarkasmus. Der Canard druckt ein leeres Geviert auf die Titelseite und meint, so würde die Zeitung aussehen, wenn man sich dieser Politik anschlösse. Freiheit ist nicht zuletzt die Freiheit zur brachialen publizistischen Insubordination, zur Frontalattacke auf alles, was heilig ist. Paris und Frankreich werden die satirische Fahne jedenfalls hochhalten. (Christoph Winder, 13.7.2019)