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Foto: AP / Manu Fernandez

Madrid – Sie galt als große Vorkämpferin für eine ganze Generation heute längst Erwachsener, die als "geraubte Kinder" in die spanische Geschichtsschreibung eingegangen sind. Und das ist sie auch weiterhin, immerhin geht es um zehntausende Menschen, die in der Zeit der klerikalfaschistischen Franco-Diktatur (1939–1975) ihren leiblichen Eltern weggenommen und an linientreue Paare vergeben wurden.

Ihre eigene, persönliche Geschichte muss Inés Madrigal, die vor Gericht für die Rechte "gestohlener Kinder" aufgetreten war, allerdings umschreiben: Die heute 50-Jährige gab diese Woche bekannt, dass sie durch einen DNA-Test erfahren habe, wer ihre biologischen Eltern waren. Und vor allem: Madrigal erfuhr von ihren leiblichen Geschwistern, dass sie selbst nicht geraubt, sondern freiwillig zur Adoption freigegeben worden war.

Neue Beweishürden für gestohlene Kinder

Diese Erkenntnis könnte für viele tatsächlich als Kinder geraubte Spanierinnen und Spanier problematische Folgen haben: Madrigals Fall war der erste seiner Art, der tatsächlich in einen Prozess mündete. Bisher hatten Gerichte ähnliche Verfahren meist wegen Verjährung eingestellt. Ihre Causa stellte eine Art Präzedenzfall dar, der sich nun in sein Gegenteil verkehren könnte: Menschen, die als "niños robados" anerkannt werden wollen, müssen vor Gericht künftig wohl höhere Beweishürden überspringen.

Sie selbst sprach nach Bekanntwerden der Angelegenheit dennoch von der "besten Nachricht", die jemand in ihrer Situation erhalten könne. Sie wisse nun endlich über ihre echte Familie Bescheid, "ich habe das Rätsel gelöst, das mein Leben bisher war". Dass sie nicht geraubt, sondern "nur" an andere Eltern "verschenkt" worden sei, lässt sie ihre Kritik am System und dem verantwortlichen Arzt Eduardo Vela nicht abschwächen. "Ich war ein Gefallen, den Dr. Vela jemandem tat. Als würde man einem Kind einen Hundewelpen schenken."

Armen und Linken gestohlen, reichen Katholiken gegeben

Opferorganisationen sprechen von bis zu 300.000 Menschen, Spaniens Justiz von 30.000, die insgesamt vom System der "gestohlenen Kinder" betroffen sein könnten. Sie waren ihren Müttern gleich nach der Geburt oder im Säuglingsalter weggenommen worden. Anfangs war es dabei meist um politische Ziele gegangen: Tatsächlich oder vermeintlich linken Eltern waren die Kinder abgenommen worden, wobei den Müttern oft erzählt wurde, ihr Kind sei gestorben. Später dehnte sich das System auf Eltern aus, denen der Staat die moralische Erziehung ihrer Kinder nicht zutraute: arme Familien, alleinerziehende Mütter und Frauen, die Kinder außerhalb der Ehe bekamen. Das System wurde von der katholischen Kirche unterstützt, die auch die Franco-Diktatur als Ganzes förderte. Kinder gingen meist an politisch konservative, wohlhabende und katholische Familien.

Eduardo Vela, jener Arzt, der als Klinikleiter auch für das Schicksal von Inés Madrigal verantwortlich war, wurde im vergangenen Jahr von einem spanischen Gericht schuldig gesprochen. Allerdings setzten die Richter die Strafe aus, weil der Fall verjährt sei. Madrigal wartet derzeit auf eine Berufungsverhandlung vor dem Höchstgericht. Die Enthüllung, dass sie nicht "gestohlen" wurde, könnte ihren Chancen nun schaden. (Manuel Escher, 12.7.2019)