Gleich wegwerfen? Oder reinschauen und stundenlang sichten, was in diesem Ordner, jener Schachtel ist nach 39 Jahren bei Ö1? Mit 31. Juli geht Peter Klein, bald 66, in Pension, seit 2014 ist er Senderchef, davor leitete er lange Zeit Literatur, Hörspiel und Feature beim ORF-Kulturradio.

Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin, noch nicht bestellt, bezieht Kleins geräumiges Büro im Funkhaus mit Blick auf viel Baumgrün nur kurz, dann kommt Ö1 Ende 2021 mit Ö3 und nach FM4 ins ORF-Zentrum auf den Küniglberg. Auch das erleichtert Klein den Abgang.

STANDARD: Abschiedsschmerz?

Peter Klein: Schmerz würde ich nicht sagen. Aber ich lebe gerade in einer Melange widersprüchlicher Gefühle. Auf der einen Seite bin ich wirklich froh darüber, jetzt nicht mehr für 200 Leute und ziemlich viel Geld und ein ganzes Programm verantwortlich zu sein und mich ständig mit Dingen zu beschäftigen, die häufig in Zahlenkolonnen enden. Und ich bin auch ein wenig müde, ich werde im August 66. Es ist absolut an der Zeit für mich zu gehen. Andererseits ist das die gravierendste Veränderung meines Erwachsenenlebens, vielleicht seit der Geburt meiner Tochter, und die ist 35. Ich habe keine Idee, wie sich mein Leben ab dem 1. August abspielt. Ich bin neugierig, wie das ist, nicht zu arbeiten.

STANDARD: Ich könnte mir vorstellen, dass Sie nicht nur aus Müdigkeit und Neugier ganz gerne gehen, sondern auch weil auf Ö1 einiges zukommt – die lange von der Mannschaft bekämpfte Übersiedelung von Ö1 auf den Küniglberg zum Beispiel.

Klein: Ich gebe zu, ich werde das die nächsten Jahre nicht vermissen. Aber ich war die letzten Jahre damit befasst, habe mir überlegt, wie man einen Medienbetrieb für die Zukunft organisiert. Ich gehe in einer guten Phase, weil die Planung weitgehend abgeschlossen ist.

"Ich bin auch ein wenig müde, ich werde im August 66. Es ist absolut an der Zeit für mich zu gehen": Peter Klein, bis Ende Juli Ö1-Chef.
APA/HANS KLAUS TECHT

STANDARD: Wie wird denn Ö1 2030 aussehen?

Klein: Ich bin absolut optimistisch, dass es Ö1 mindestens so dringend braucht wie jetzt. Eine Integral-Studie sagt uns, die zentrale gesellschaftliche Kategorie ist im Augenblick Halt- und Orientierungslosigkeit, übrigens seit Herbst 2015 steil ansteigend. Es gibt weit mehr Fragen als Antworten in dieser Welt. Gleichzeitig ist die Gesellschaft politisiert. Die Gesellschaft wird immer gebildeter. Das sind hervorragende Bedingungen für Qualitätsmedien. Unsere Kunst besteht darin, das zu erkennen und das Publikum dort abzuholen, Antworten zu geben auf gestellte und vor allem noch nicht gestellte Fragen.

STANDARD: Aber was ist Ö1 dann? Ein linearer Radiosender wie bisher?

Klein: Im Zentrum wird mit Sicherheit noch die lineare Produktion stehen. Aber wir machen ja schon seit langem alles Mögliche dazu – Downloads, Nachhören, Podcasts, CD-Produktion, Veranstaltungen, eine Programmzeitschrift. Uns kann niemand mit multimedialem Arbeiten schrecken. Der Gesetzgeber könnte uns da noch einige Fußfesseln abnehmen, wir würden gerne mehr tun.

STANDARD: Warum weiterhin ein Fokus auf lineares Programm?

Klein: Das ist schon der Gesetzesauftrag, wenn auch nicht unser einziger. Das Tolle an Ö1 ist ja: Wenn man linear Ö1 hört, wird man immer wieder mit Themen konfrontiert, von denen man nichts wusste – schon gar nicht, dass sie einen interessieren.

STANDARD: Die geplante große digitale Social- und Streamingplattform ORF Player soll insbesondere auch klassische Ö1-Inhalte wie Kultur, Wissenschaft, Ethik, Religion abdecken, in Audio, Video und Text. Dem Player wird Ö1 nicht entkommen.

Klein: Wir mischen uns da auch sehr massiv ein. Schon weil wir Radioleute einen gewissen Minderwertigkeitskomplex haben und Angst haben, dass wir vom Fernsehen überrollt werden. Wir wollen da massiv mitspielen. Je stärker wir in digitalen Vertriebssystemen denken, desto stärker werden die unsere ursprüngliche Produktion beeinflussen. Das haben wir noch nicht genau gecheckt, wie das wirklich ist.

STANDARD: Um Ihren Job reißen sich viele Menschen.

Klein: Erfreulicherweise.

STANDARD: Haben Sie einen Wunschnachfolger?

Klein: Es haben sich 13 Leute beworben, davon zwölf aus dem Haus. Mehr oder minder alle relevanten Führungskräfte von Ö1. Wer immer es aus diesem Kreis wird, es wird gut sein. Da kann wenig schiefgehen. Ich werde jetzt natürlich keinen Wunschnachfolger und keine Wunschnachfolgerin nennen, das wäre unfair.

Ö1-Studio: "Im Zentrum wird mit Sicherheit noch die lineare Produktion stehen. Aber wir machen ja schon seit Langem alles Mögliche dazu – Downloads, Nachhören, Podcasts, CD-Produktion, Veranstaltungen, eine Programmzeitschrift. Uns kann niemand mit multimedialem Arbeiten schrecken", sagt Peter Klein über Ö1 2030.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

STANDARD: Aber Sie haben sicher ein Anforderungsprofil für Ihren Nachfolger.

Klein: Wer immer es wird: Es muss ein wacher politischer Mensch sein – wenn geht, mit einem möglichst internationalen Horizont.

STANDARD: Politisch wach meint hier ...?

Klein: Die Welt und die Gesellschaft zu beobachten, Themen und Verwerfungen zu erkennen ...

STANDARD: Was muss der Ö1-Chef noch können?

Klein: Es muss jemand mit hoher sozialer Kompetenz sein. Denn die Kolleginnen und Kollegen von Ö1 sind sehr eigenständig, durchaus konfliktfreudig. Das ist ein Potenzial, das die Qualität des Senders ausmacht. Andererseits muss man mit denen auch umgehen können. Das ist ganz wichtig. Dieser Jemand muss auch aufgeschlossen sein gegenüber den Entwicklungen am Medienmarkt und neuen Technologien. Dieser Jemand muss zum Schulterschluss zu den Kulturschaffenden und Intellektuellen dieser Republik imstande sein, ein Außenminister des Senders. Und dieser Jemand muss aber auch ein sehr guter Innenminister von Ö1 sein – imstande, Bedeutung und Relevanz und Interessen von Ö1 im Gesamtunternehmen ORF entsprechend zu formulieren und durchzusetzen. Kurzum: Gesucht ist der Wunderwuzzi.

STANDARD: Und Sie sind dieser Wunderwuzzi? Inwieweit erfüllen Sie das Profil?

Klein: Ich erfülle das Profil teilweise. Im Erkennen von Themen bin ich ziemlich gut. Ich glaube, ich verfüge auch über ausreichend Sozialkompetenz, um mit den Leuten von Ö1 adäquat umgehen zu können. Ich bin sicher ein ziemlich guter Außenminister – Kontakte zu Kulturschaffenden, zu den Intellektuellen, zu den Künstlern, das liebe ich. Ich wäre überhaupt der perfekte Ö1-Grußonkel.

STANDARD: Vielleicht gibt es dafür noch einen Konsulentenvertrag. Fehlt noch der Innenminister.

Klein: Als Machtpolitiker im Haus hätte ich noch sehr viel Luft nach oben gehabt.

STANDARD: In Sachen sozialer Kompetenz höre ich aus der Belegschaft ein paar Minuspunkte. Ein Abschiedsfest offenbar mit Führungskräften und nicht mit der ganzen Ö1-Mannschaft. Es gibt Gleichbehandlungsfälle, es laufen Klagen von Mitarbeitern auf einen besseren Kollektivvertrag, wenig Aussichten fixer freier Mitarbeiter auf Anstellung.

Klein: Beginnen wir mit der Party: Das war ein Doppelfest für die langjährige Personalchefin Ulrike Wüstenhagen und für mich. Also hatten wir schon einmal zwei Publika. Wir wollten das Fest unbedingt im Radiocafé machen. Und da gehen nicht mehr als 100 Leute rein. Wir haben 200 eingeladen, und ich wollte Menschen, die in meinem langen Berufsleben eine Rolle gespielt haben. Ö1 hat alles in allem 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es tut mir wahnsinnig leid, aber es ist sich nicht anders ausgegangen. Wir hätten die Stadthalle mieten müssen. Und: Eingeladen hat die Radiodirektorin.

STANDARD: Die Gleichbehandlungsfälle und KV-Klagen?

Klein: Ja, es gibt Konfliktfälle. Und es gibt diese Klagen. Ich gehe davon aus, dass diese Klagen keinen Erfolg haben, die Beweisführung kann ich bei allem Verständnis nicht nachvollziehen. Und es wäre auch gut so, wenn diesen Klagen nicht entsprochen wird. Diese Beispiele sollten nicht Schule machen.

STANDARD: Im ORF gibt es eine Fünf- oder Sechsklassengesellschaft mit verschiedensten Einzel- und Kollektivverträgen von der alten Freien Betriebsvereinbarung (FBV) bis zum jüngsten KV 2014. Wäre eine – auch stufenweise – Angleichung nicht sinnvoll?

Klein: Wir haben, was die soziale Dynamik betrifft, eine unglückliche Situation. Wir haben eine Mehrklassengesellschaft, wobei die älteste Klasse, die nach der FBV Angestellten, jetzt nur noch in Spurenelementen vorhanden ist.

STANDARD: Und alle paar Jahre ein schlechterer Kollektivvertrag, nur für die neu Angestellten?

Klein: Wenn man sich die Personalsituation im ORF ansieht und erkennt, wie die Schere auseinandergeht zwischen Personal- und anderen Kosten: Dann führt kein Weg daran vorbei, Kollektivverträge zu schaffen, die nicht ganz so gut sind wie ihre Vorgänger. Man darf bei dieser Debatte aber nicht die Realität aus den Augen verlieren. Ich bin Sohn eines deutsch-rumänischen Hilfsarbeiters. Wir arbeiten hier in sehr privilegierten Situationen. Die Kolleginnen und Kollegen von Ö1 können ihre Interessen, Leidenschaften, Kompetenzen in einem Maß von Freiheit beruflich umsetzen, das es nicht überall gibt. Zu Recht, wir sind ein Kreativbetrieb. Aber: Im ORF Beschäftigte sind nicht die allerschlechtestbezahlten Menschen in Österreichs Gesellschaft. Das Problem des Vergleichs existiert immer. Und die Menschen neigen dazu, sich immer mit jenen wenigen zu vergleichen, denen es noch besser geht, und nicht mit den vielen, denen es schlechter geht.

STANDARD: Wäre eine Angleichung, ein einigermaßen gerechtes System statt einer Sechsklassengesellschaft nicht sinnvoll? Sie betrifft's ja nicht mehr.

Klein: Natürlich wäre es wünschenswert, nicht mehrere Einkommensklassen ...

STANDARD: ... im selben Sender ...

Klein: ... zu haben. Aber ich bitte um Verständnis – das ist ein Thema für den Generaldirektor, den kaufmännischen Direktor und die Personalchefin. Aber natürlich ist das eine ungünstige Situation.

"Wir arbeiten hier in sehr privilegierten Situationen. Die Kolleginnen und Kollegen von Ö1 können ihre Interessen, Leidenschaften, Kompetenzen in einem Maß von Freiheit beruflich umsetzen, das es nicht überall gibt. Zurecht, wir sind ein Kreativbetrieb." Peter Klein, hier mit Radiodirektorin Monika Eigensperger bei der Präsentation 50 Jahre Ö1.
APA/HANS KLAUS TECHT

STANDARD: Der politischen Wachheit im Zusammenhang mit dem Ö1-Chef würde ich mich gerne etwas anders annähern: Mich hat vor Ihrer Bestellung das intensive Interesse von ÖVP-nahen Stiftungsräten an der Besetzung des Ö1-Chefs etwas verwundert.

Klein: Mir erscheint das Interesse der Politik an Ö1 sehr, sehr, sehr überschaubar. Natürlich ist es größer an den Ö1-Journalen und -Nachrichten. Ich habe mit Interventionen überhaupt nichts zu tun. Mich erreicht so was nicht. Ich bin heilfroh darüber, aber ich finde, die Politik macht einen Fehler, wenn sie Ö1 nicht interessiert.

STANDARD: Aber gerade Ihre definitive Bestellung zum Ö1-Chef hat doch wegen des besonderen Interesses vor allem bürgerlicher Stiftungsräte für die Besetzung besonders lange gedauert.

Klein: Zugegeben: Meine eigene Geschichte erzählt fast das Gegenteil des gerade Gesagten. Ich war der längstdienende interimistische Ö1-Chef aller Zeiten. Aber das war mir schon als interimistischer Senderchef wurscht.

STANDARD: Diese bürgerlichen Stiftungsräte sahen einen linken oder linksgrünen Spirit oder Bias auf Ö1. Ich kann mir nicht vorstellen, dass solche Beschwerden den Ö1-Chef nicht erreichen.

Klein: Klimawandel, Globalisierung, Gerechtigkeit, Verteilung, Gendergerechtigkeit sind klassische Ö1-Themen – weil relevante Themen. Diese Ö1-Themen werden öffentlich wohl als linke oder linksgrüne Themen wahrgenommen. Wie können wir darauf reagieren? Sollen wir uns nicht mehr mit dem Klimawandel beschäftigen, nicht mehr mit dem internationalen Finanzkapital, nicht damit, dass Frauen immer noch weniger verdienen, nicht mit der Kolonialgeschichte? Das kann nicht unsere Reaktion darauf sein. Und wenn die Gesellschaft politisch eindeutig ein Stück nach rechts gerückt ist – dann ist man auch bald einmal links.

STANDARD: Also weiter wie bisher?

Klein: Wir müssen schon sehr aufpassen. Das Rundfunkgesetz verpflichtet uns zur Ausgewogenheit und zur Objektivität. Das ist unser allerhöchstes Gut, das uns schützt, egal welche Regierung wir gerade haben und ob sich die Gesellschaft nun nach links oder rechts entwickelt. Und gelegentlich besteht bei Ö1 schon die Gefahr zu sagen: Objektivität und Rundfunkgesetz, natürlich, aber die internationale Verteilungsgerechtigkeit ist uns schon noch wichtiger. Das diskutieren wir intern heftig. Aber: In allen relevanten Untersuchungen, Markenstudien und Befragungen ist Ö1 in Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Seriosität ganz weit oben, vor allen anderen ORF-Medien und im Regelfall auch allen anderen.

Ich komme aus der Literatur und habe einen dramaturgischen Zugang zu der Frage: Man braucht immer einen Protagonisten und einen Antagonisten. Das Programm würde unglaublich fad werden, wenn wir wirklich Schlagseite bekommen würden. Ich brauche niemanden, der mir ständig meine eigene Meinung bestätigt – das ist zum Gähnen langweilig.

STANDARD: Inzwischen hat jedes bundesweite ORF-Radio auch formal einen Senderchef. Braucht es da eigentlich noch eine Radiodirektion?

Klein: Selbstverständlich braucht es eine Radiodirektion – um die Interessen von Ö1, Ö3 und FM4, aber auch des Radiokulturhauses und das Radiosymphonieorchesters in der Geschäftsführung zu vertreten. Wir haben da mit dem Funkhaus einen Standortnachteil – wir sind nicht präsent auf dem Küniglberg, wir laufen einander nicht über den Weg.

"Selbstverständlich braucht es eine Radiodirektion": Peter Klein und Radiodirektorin Monika Eigensperger.
APA/HANS KLAUS TECHT

STANDARD: Das wird sich für FM4 noch heuer im Herbst und für Ö1 und Ö3 2022 ändern, wenn alle Sender auf den Küniglberg kommen.

Klein: Zumindest bis dahin ist die Vertretung der Radios durch eine Direktorin von allergrößter Bedeutung. Wenn wir alle auf dem Küniglberg sind, würde ich mir zwar noch immer eine Radiodirektion wünschen – ich fürchte aber, es wird keine mehr geben. Dann sind wir aber auch näher dran.

STANDARD: Was soll denn in den Geschichtsbüchern stehen über Peter Klein?

Klein: Er war ein leidenschaftlicher Radiomacher, und auch ein Radiomacher der alten Schule. Insofern ist es auch wirklich Zeit, dass ich gehe. Ich habe 1980 begonnen, Radio zu machen. Da hat man Radiosendungen gemacht und sonst gar nichts, nicht einmal Pressetexte.

STANDARD: Und als Ö1-Chef?

Klein: Als ich das Amt 2014 übernommen habe, gab es einen Reformstau. Wir haben das 50-Jahr-Jubiläum von Ö1 2017 genutzt für eine dezente Runderneuerung des Schemas und des akustischen Designs und des Einsatzes von Stimmen geleistet.

STANDARD: Warum wurden die neuen Signations für Ö1 eigentlich nicht ausgeschrieben? Ich hörte bei der Vorbereitung mehrfach den Vorwurf, Sie hätten mit Christian Muthspiel einen Freund quasi freihändig beauftragt.

Klein: Vorweg zum Freund: Ich habe Christian Muthspiel vorher nicht gekannt. Unsere Musikredaktion hat ihn mir schon lange empfohlen, falls wir an neue Signations denken – er ist im Jazz und in der Klassik beheimatet, und er kann dirigieren. Ich habe ihn natürlich im Lauf der Arbeit kennengelernt, er ist ein Freund geworden. Für neue Signations braucht es eine belastbare Beziehung, in der auch ein Nein möglich sein muss.

STANDARD: Warum keine Ausschreibung?

Klein: Nach dem österreichischen Vergaberecht muss erst ab 100.000 Euro ausgeschrieben werden. Er hat von uns ein Honorar von 30.000 Euro bekommen und davon noch seine Musiker selbst bezahlt, die er neben dem Radiosymphonieorchesters eingesetzt hat.

STANDARD: Plus Tantiemen.

Klein: Ich war mir nach einigen Gesprächen klar: Er ist es, der kann das, was wir uns vorstellen. Wir können miteinander. Aber wir haben uns vorher nicht gekannt.

STANDARD: Sind die Signations eigentlich länger als früher?

Klein: Nein – vielleicht einzelne, aber nicht in Summe. Die "Menschenbilder" haben die längste mit 45 Sekunden.

STANDARD: Die Reaktionen auf die neuen Signations waren heftig.

Klein: Aberwitzig. Aber damit haben wir gerechnet, das war nicht anders, als jene von Werner Pirchner on air gingen. Das Ö1-Publikum bewohnt seinen Sender wie ein Appartement. Und es hat nicht gern, wenn man da hineingeht und die Biedermeier-Kommode von da nach dort stellt – oder gar durch ein neues Teil ersetzt. Die Reaktionen waren völlig widersprüchlich. Die einen haben sich beschwert über die bizarren Disharmonien und die anderen über den Rückschritt in ein neues Biedermeier.

STANDARD: Hofratswitwen gegen Experimentalmusiker?

Klein: Ö1 hat nicht ein Publikum. Es hat 680.000 Publika. Opernfreunde wollen den ganzen Tag Oper, Jazzfreunde den ganzen Tag Jazz – aber jeweils auch nicht dieselben Opern oder denselben Jazz. Die einen stören die "Spielräume", die anderen die Klassik. Ich war früher einmal Lehrer. Und für mich hat Ö1 die wichtige Aufgabe, diese verschiedenen Fraktionen zur Toleranz zu erziehen. Ö1 ist deswegen so erfolgreich, weil wir in güldenen Zeiten der 1980er nicht den Fehler der meisten anderen begangen haben ...

STANDARD: ... reinsortige Spartensender zu gründen.

Klein: ... und damit den Konflikt zwischen Worthörern, zwischen den unterschiedlichsten Musikhörern, den Informationshörern zu lösen mit einem Infosender, einem Klassiksender, einem Kultursender und so weiter – die jetzt alle bei 1,8 oder zwei Prozent herumgrundeln. Mein Vorvorgänger Alfred Treiber hat das einmal so in seiner Art auf den Punkt gebracht: Jemand, der immer nur Opern hören will, sich aber nicht dafür interessiert, wie es in der Ostukraine weitergeht, ist für mich kein Kulturmensch, sondern ein Trottel.

STANDARD: Geht sich dieser Zugang in Zeiten von Spotify, Amazon Prime Music und anderen praktischen Abrufangeboten für praktisch jedes akustische Interesse auch noch aus?

Klein: Ja. Ö1 wächst. Und für den Boom der Podcasts – Ö1 hat 28 – gibt es europaweit noch nicht wahnsinnig viel Evidenz. Drei bis vier Prozent aller europaweit gehörten Audios sind heute Podcasts, sagt die Marktforschungsabteilung der Europäischen Rundfunkunion EBU. Das mag in fünf bis zehn Jahren für uns tatsächlich weit mehr Bedeutung haben als heute. Aber ich bin, vielleicht altmodisch, davon überzeugt: Menschen brauchen in Medien einen verlässlichen Partner.

STANDARD: Der verlässlich was tut?

Klein: Jemand, der ihnen die Welt sortiert. Jemand, der ihnen sagt: Lies dieses Buch, schau dir jenen Film an, da gibt es eine neue CD von Billie Eilish, dort eine neue Einspielung des XY-Quartetts der Beethoven-Sonaten. Das ordnet das Leben, macht das Leben einfacher, als wenn man sich alles ununterbrochen irgendwo zusammenklauben muss. Auch wenn Spotify die Aufgaben für einen übernimmt. Vielleicht ist es wirklich Zeit, dass ich diesen Schreibtisch räume.

STANDARD: Wie alt ist der durchschnittliche Ö1-Hörer?

Klein: 55,4 Jahre.

STANDARD: Jünger als der Zuschauerschnitt der "Zeit im Bild". Und vielleicht gar nicht so viel älter als jener von FM4, wenn ich von mir ausgehe.

Klein: Ö1 hat im letzten Radiotest als einziger Sender bei den 14- bis 49-Jährigen gewonnen. Nicht viel, aber doch. (Harald Fidler, 13.7.2019)