Im Gastkommentar fordern die beiden Politikwissenschafterinnen Birgit Sauer und Stefanie Wöhl eine Demokratisierung der Expertise.

Expertentum schien immer schon die Lösung für politische und ökonomische Probleme zu sein. In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 kamen Expertinnen und Experten zu Wort, um nationale Regierungen oder die EU-Kommission zu beraten. Auch in mancher Regierungskrise anderswo wurden sogenannte Expertenregierungen eingesetzt, etwa in Italien im Jahr 2011, als die Koalitionsverhandlungen nach einer Neuwahl scheiterten.

Einerseits ist es gut, dass es Fachexpertinnen und Fachexperten gibt, ohne sie könnten wir die rechtlichen, politischen, medizinischen, ökonomischen, und umweltpolitischen Probleme des täglichen Lebens kaum meistern. Andererseits können sie gerade in der Politik und in der politischen Öffentlichkeit ihren Einfluss geltend machen, weil ihr Wissen auch Machtverhältnisse widerspiegelt. Experten "sprechen wahr" – ihre Aussagen werden als nicht hinterfragbar präsentiert.

Kanzlerin Bierlein setzt mit ihrem Kabinett die Geschlechterungleichheit des Expertentums außer Kraft.
Foto: EXPA/ Michael Gruber -

Meist männlicher "Politikexperte"

Der meist männliche "Politikexperte" ist daher auch eine hierarchische Figur, die wenig Spielraum für umstrittene Fakten und Daten sowie für politische Partizipation zulässt. Die jetzige Übergangsregierung soll die Geschlechterungleichheit des Expertentums und der Politik bewusst außer Kraft setzen. Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein hat nicht umsonst die Maxime ausgegeben, keine weitreichenden politischen Entscheidungen zu treffen. Diese Vorhaben sind Aufgabe der jetzt und im September demokratisch von den österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern gewählten Parteien im Parlament und der neuen Regierung.

Erweiterung der Partizipation

Die jetzige Phase einer "Expertenregierung" gibt aber Zeit, darüber nachzudenken, wie eine möglichst breite Einbindung der in Österreich lebenden Menschen in den politischen Prozess möglich ist und wie eine horizontal ausgerichtete Autorität aussehen könnte, die die Rolle von Expertentum auf das Notwendigste beschränkt; die Debatten über kontroverse Themen nicht nur zulässt und auf den engen parlamentarischen und sozialpartnerschaftlichen Raum begrenzt, sondern alle in den politischen Prozess einbindet.

Dies wäre eine Erweiterung der Partizipation über das hinaus, was das repräsentative politische System momentan zulässt. Das Scheitern der türkis-blauen Regierung und die daraus folgende "Expertenregierung" sollte konstruktiv genutzt werden, um diese problematischen Dimensionen der liberal-repräsentativen Demokratie zu reflektieren.

Partizipation im Bezirk

Auf kommunaler Ebene gibt es bereits diverse Konsultationsprozesse, in der zum Beispiel die Bezirksbewohner dazu befragt werden, wie ihr Stadtteil gestaltet werden soll. Das Thema Wohnen bietet sich besonders an, weil sich hier ganz deutlich die Interessen unterschiedlicher Gruppen wie auch Macht- und Eigentumsverhältnisse zeigen. Bauträger, Immobilienfirmen, Umweltverträglichkeit, soziale Lage und Lohnverhältnisse der Mietenden oder Kaufenden, Alter oder ihre persönliche Gesundheit spielen eine große Rolle. Und die steigenden Mieten in europäischen Großstädten zeigen, welche mächtigen Interessen im Spiel sind und wer seine Interessen durchsetzen kann.

Dies verdeutlicht, dass es bei politischen Entscheidungen bedeutsam ist, welches Geschlecht, und Alter, welche sexuelle Orientierung, Religion, ethnische oder soziale Herkunft Menschen haben. Für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben und ein inklusives demokratisches politisches System ist es daher notwendig, die Interessen jener zu berücksichtigen, die über weniger Machtressourcen verfügen, um gravierende soziale und politische Spaltungen in der Gesellschaft zu vermeiden. Sonst sind gesellschaftliche und politische Ausgrenzung, die im schlimmsten Fall zu politischem Extremismus, Hass, ideologisch motivierten Anschlägen wie im Fall Lübcke in Deutschland, Mord und Völkermord führen können, die Folgen.

Ressentiments und Wut

Diese Entwicklungen beobachten wir derzeit international, in Österreich manifestieren sie sich etwa in der Schändung jüdischer Erinnerungsstätten, dem Beschimpfen oder Bespucken von Musliminnen mit Kopftuch oder in den Hass-E-Mails, denen öffentlich bekannte Personen und der Journalismus ausgesetzt sind.

Diese Atmosphäre des Ressentiments gegenüber anderen, die Wut gegenüber Migrantinnen, Migranten, Geflüchteten, auch in Fragen der Verteilung von Wohnraum, zerstört auf lange Sicht das Zusammenleben und ein gutes Leben für alle Menschen.

Eine zukunftsfähige, ökologisch nachhaltige und solidarische Politik braucht mehr Partizipation, braucht die Expertise der vielen. Diese zu organisieren muss auch die Aufgabe einer Regierung sein, die aus der demokratiezerstörenden zweiten türkis-blauen Regierungsphase lernt. Über solche neuen demokratischen Modelle nachzudenken sollte uns die Berufung auf Experten und Expertinnen motivieren. (Birgit Sauer, Stefanie Wöhl, 14.7.2019)