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Man unterschätze die Faultiere nicht: Einst sind sie sogar von Kontinent zu Kontinent geschwommen.
Foto: Suzi Eszterhas / Minden Pictures / picturedesk.com

Muss ein Faultier vom Baum, schiebt es sich flach über den Boden, als würde es Gehen als horizontale Sonderform von Klettern interpretieren. Steht dieser Boden unter Wasser, taucht es zwar beherzt ein und ist dann sogar dreimal so schnell unterwegs wie an Land. Allerdings gibt es in unserer Sprache kein Wort, das den Schwimmstil eines Faultiers angemessen beschreiben würde. Man muss es einfach gesehen haben.

Doch selbst für seinen eigentlichen Lebensraum, die Baumkronen, scheint es nur die zweitbeste Fortbewegungsart gefunden zu haben. Wo Primaten oder Hörnchen behände von Ast zu Ast hüpfen, lassen sich Faultiere kopfunter baumeln und hangeln sich mit atemberaubender Langsamkeit weiter. Jedenfalls in den je nach Art und Umständen 30 bis gar nur zehn Prozent des Tages, in denen sie überhaupt aktiv sind.

Slow-Food-Bewegung

Der Grund dafür ist die Anpassung der Faultiere an eine ökologische Nische, die niemand anderer haben wollte. Sie fressen hauptsächlich Blätter, eine sehr nährstoffarme Kost. Das tun andere Säugetiere natürlich auch – der entscheidende Unterschied ist, dass die am Boden leben und daher groß genug werden können, um die schmale Kost in ausreichenden Mengen zu verschlingen. Faultiere hingegen müssen sich in den Baumwipfeln halten können, sind auf eine Masse von im Schnitt fünf Kilogramm limitiert und finden ihr Auslangen nur, indem sie ihren Stoffwechsel spektakulär niedrig halten. Dementsprechend sparsam fallen alle ihre Aktivitäten aus.

So könnte es in den Amerikas heute noch aussehen: All diese Faultier-Varianten waren eine Zeitlang Nachbarn des Menschen. Am Boden von links nach rechts: Mylodon, Megalonyx und Megatherium. Am Baumstamm das ebenfalls ausgestorbene karibische Faultier Acratocnus, in der Krone die beiden heutigen Gattungen Dreifingerfaultier (links) und Zweifingerfaultier.
Illustration: Jorge Blanco

Doch das war nicht immer so, ganz im Gegenteil: Faultiere sind ein Paradebeispiel dafür, dass die uns vertraute Welt mitunter nur ein kleiner Ausschnitt eines viel größeren Ganzen ist – und nicht immer ein repräsentativer. Die Nashörner beispielsweise würden sogar ihren Namen verlieren, zöge man die ganze Verwandtschaft in Betracht: In der Vergangenheit gab es mehr Nashörner ohne Horn als mit, betont Evolutionsbiologe Mikael Fortelius von der Universität Helsinki.

Auf den Bäumen, am Boden und im Wasser

Ebenso lebten bei weitem nicht alle Faultiere auf Bäumen und waren den damit verbundenen Limits unterworfen. Ihre bodenbewohnenden Vertreter umfassten ein Größenspektrum vom Pony- bis zum Elefantenformat. Das eiszeitliche Megatherium americanum war mit sechs Metern Länge und vier Tonnen Gewicht sogar eines der größten Landsäugetiere überhaupt und konnte sich neben den damaligen Mammuts behaupten.

Doch damit nicht genug, einen vollkommen anderen Lebensraum eroberten die Faultiere ebenfalls: An der südamerikanischen Pazifikküste passten sich Angehörige der Gattung Thalassocnus vor gut sieben Millionen Jahren an ein semiaquatisches Leben an. Mit einem Mittelding aus Schwimmen und Laufen glitten die zwei bis drei Meter langen Faultiere über den Meeresboden, um Wasserpflanzen abzuweiden – eine ökologische Nische irgendwo zwischen denen von Flusspferden und Seekühen.

Der Siegeszug der Faultiere

Ihrer erstaunlichen Flexibilität verdankten die Faultiere auch eine geographische Ausbreitung, mit der nicht viele andere Tiergruppen mithalten konnten. Vor kurzem erst gelang es zwei Forscherteams aus den USA und Frankreich, diese Ausbreitung zu rekonstruieren. Unabhängig voneinander kamen ihre Analysen mitochondrialer DNA und des Kollagens aus Knochen zum gleichen Ergebnis, nämlich dass sich vor gut 30 Millionen Jahren erstmals eine Gruppe Faultiere vom Rest der Verwandtschaft abspaltete und die karibischen Inseln kolonisierte.

Schwimmen haben Faultiere immer noch im Repertoire. Die Distanzen sind aber etwas bescheidener geworden.
BBC Earth

Diese Pioniere dürften dem Aussehen der Urfaultiere am nächsten gekommen sein: etwa so groß wie Kleinbären und sowohl für ein Leben in den Bäumen wie auch am Boden geeignet. Auf dieser flexiblen genetischen Grundlage konnten die verschiedenen Gruppen von Festlandfaultieren dann Extremformen in beide Richtungen ausbilden.

Die in "Current Biology" und "Nature Ecology and Evolution" veröffentlichten Analysen zeigten, dass das heutige Dreifingerfaultier ein naher Verwandter des kolossalen Megatheriums ist, das Zweifingerfaultier hingegen ein Cousin des nicht ganz so großen, aber immer noch tonnenschweren Mylodons. Die uns heute vertrauten Faultiere sind also ein Fall von konvergenter Evolution. Offenbar brachten alle Untergruppen Riesen wie auch Zwerge hervor.

Zwei der untersuchten Riesenfaultier-Spezies: Lestodon (links) aus Südamerika und Megalonyx aus Nordamerika. Ihr Skelettbau zeigt, warum sie sich neben der Übermacht der Huftiere behaupten konnten: Mit den klauenbewehrten Pranken konnten sie sich Äste angeln. Elefanten haben mit ihrem Rüssel einen ähnlichen Trick im Ärmel – würden sie auch noch aussterben, hätten Paar- und Unpaarhufer die Nische der großen Pflanzenfresser endgültig für sich allein.
Fotos: AMNH/D. Finnin

Die Faultiere waren damit so breit aufgestellt, dass sie sogar den Großen Amerikanischen Faunenaustausch vor 2,8 Millionen Jahren überstanden, die letzte große zoologische Rochade ohne Beteiligung des Menschen. Als sich das bis dahin isolierte Südamerika mit Nordamerika verband, strömten zahlreiche Tiergruppen nach Süden, die sich im Konkurrenzkampf des Mega-Lebensraums Afrika-Eurasien-Nordamerika bereits bewährt hatten. Dagegen schafften nur wenige südamerikanische Tiergruppen den Weg nach Norden.

Doch die Faultiere gehörten dazu. Und genau genommen war es nur ihre zweite Welle, die jetzt über die neue Landbrücke nordwärts trottete. Einige Millionen Jahre zuvor hatten proaktive Faultiere bereits von Insel zu Insel schwimmend den neuen Kontinent erreicht und sich dort erfolgreich festgesetzt.

Auf dem Gipfelpunkt

Im Eiszeitalter etablierten sich die Faultiere damit als einer der Big Player der westlichen Hemisphäre. Sie waren in den verschiedensten Lebensräumen präsent, ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich von der Südspitze Patagoniens bis ins Yukongebiet im äußersten Norden. Und wer weiß, vielleicht hätten sie beizeiten über die Landbrücke von Beringia sogar noch den Weg in die Alte Welt beschritten. Doch zu ihrem Pech gab es auf dieser Landbrücke zweibeinigen Gegenverkehr.

Zur selben Zeit, in der sich der Mensch in den Amerikas ausbreitete, verschwanden die großen Faultierarten – ausnahmsweise in rasantem Tempo. Vor etwa 11.000 Jahren starben nahezu alle größeren Arten schlagartig aus, zeitgleich mit dem Großteil der übrigen Megafauna Nord- und Südamerikas. Dass sie Opfer eines Klimawandels wurden, erscheint angesichts ihrer Verbreitung über sämtliche Klimazonen unwahrscheinlich.

Der übliche Verdächtige

Plausibler klingt die sogenannte Overkill-Hypothese, die davon ausgeht, dass die Großtiere vom Menschen bis zur Ausrottung bejagt wurden. Wie eine solche Riesenfaultierjagd ausgesehen haben könnte, zeigten 2018 in New Mexico entdeckte Fußspuren. Hier wurde offensichtlich ein drei Meter langes Faultier von Menschen umzingelt: eine Taktik, gegen die es selbst mit Schwingern seiner klauenbewehrten Vorderbeine nicht ankam – erst recht, wenn die Menschen mit Speeren bewaffnet waren.

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Spuren einer Jagd, die im späten Pleistozän im Gebiet des heutigen New Mexico stattfand.
Foto: Reuters/David Bustos/National Park Service/Bournemouth University

Ein weiteres Indiz für die Overkill-Hypothese ist der Umstand, dass die Faultiere der Karibik erst etwa 6.000 Jahre nach ihren großen Festland-Cousins verschwanden, was sich mit der Besiedlung der Inseln durch Menschen deckt.

Der letzte Akt

Und welche Zukunft steht den verbliebenen Faultieren bevor? Angst und bange kann einem werden, wenn man mitansieht, wie leicht sich ein Faultier von einem Baumstamm oder aus dem Wasser pflücken lässt. Selbst im unmittelbaren Gefahrenfall beschleunigt es nur von vier auf viereinhalb Meter pro Minute, und seine "Gegenwehr" beschränkt sich im Wesentlichen darauf, marionettenhaft mit den Armen zu wedeln.

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Nur zwei Gattungen von Faultieren gibt es heute noch: die Dreifingerfaultiere (links) mit vier Spezies und die Zweifingerfaultiere mit zwei.
Fotos: REUTERS/Carlos Jasso und REUTERS/Ecuador's Transit Commission

Nichtsdestotrotz – es grenzt an ein Wunder – gelten nur zwei der verbliebenen sechs Faultierarten als bedroht. Das ist für heutige Verhältnisse gar nicht so schlecht und wohl allein der Unzugänglichkeit ihres Lebensraums geschuldet.

Allerdings haben sie sich diesem Lebensraum auch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Verschwindet er, verschwinden sie. Dem Innovationspotenzial der flexiblen Faultiere von einst steht die extreme Spezialisierung der heutigen gegenüber – und so ist aus einem vormaligen Big Player der wenig beachtete Akteur eines sehr, sehr langsamen Stücks auf einer Seitenbühne geworden. (Jürgen Doppler, 18. 7. 2019)