Ursula von der Leyen muss um ihre Mehrheit im Parlament kämpfen.

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Die Wahl der von den Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel vor zwei Wochen auf umstrittene Weise für das Amt der Kommissionspräsidentin nominierten Ursula von der Leyen wird zur absoluten Zitterpartie. Das Votum ist für Dienstag im Plenum des Europäischen Parlaments (EP) in Straßburg vorgesehen. Eine interne Schätzung in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) am Wochenende hat ergeben, dass etwa 385 EU-Abgeordnete für die deutsche Verteidigungsministerin stimmen wollen.

Das würde für eine Mehrheit zwar reichen. Sie wäre dann gewählte Kommissionschefin und könnte auch offiziell und formell mit der Zusammenstellung ihres Teams aus weiteren 27 Kommissarinnen und Kommissaren beginnen. Aber der Überhang an Stimmen wäre äußerst knapp, und sie müsste dann mit dem Vorbehalt leben, auch von Nationalpopulisten aus der ECR-Fraktion gewählt worden zu sein. Für eine Bestätigung ist laut EU-Vertrag die absolute Mehrheit der Zahl aller EU-Mandatare nötig. Das sind an sich 376 von insgesamt 751 Mandataren. Da aber einige gewählte Abgeordnete noch nicht angelobt wurden, liegt die Wahlzahl Dienstag bei 374, heißt es im Parlament.

"Bis zur letzten Minute"

Zehn Stimmen auf oder ab – das ist in dieser so großen EU-Volksvertretung, in der die Fraktionsdisziplin in der Regel wesentlich geringer ist als auf nationaler Ebene und auch einzelne Länderinteressen eine große Rolle spielen, so gut wie nichts. Wenn nur zwei Dutzend Abgeordnete wegen Krankheit oder Urlaubs abwesend seien, könnte die Mehrheit für von der Leyen kippen.

Umso härter will sie "bis zur letzten Minute" kämpfen. Die Nervosität ist nicht nur bei ihren Christdemokraten groß, sondern in allen Fraktionen. An die Entscheidung ist ein EU-Personalpaket geknüpft, in dem auch die Liberalen (RE) mit dem belgischen Premier Charles Michel als nächstem Ratspräsidenten bedient sind. Die Sozialdemokraten (S&D) "bekommen" mit Spaniens Außenminister Josep Borrell den Posten des EU-Außenbeauftragten. Der Italiener David Sassoli von S&D ist bereits als EP-Präsident im Amt.

Dennoch macht eine Gruppe in der SP-Fraktion unter der Führung der deutschen SPD und der SPÖ kräftig Stimmung gegen von der Leyen, weil der EU-Gipfel das "Modell Spitzenkandidat" für mehr Demokratisierung der EU bewusst zerstört habe. Im EVP-Lager geht man zwar "zu 95 Prozent" davon aus, dass die Abstimmung am Dienstag stattfinden wird. Es gibt aber eine Restwahrscheinlichkeit, dass das Votum in letzter Minute abgeblasen wird, sollten Probeabstimmungen in den Fraktionen ergeben, dass die Kandidatin am Dienstag durchfallen dürfte.

Ursula von der Leyen im Video-Porträt
DER STANDARD

Schwere Krise droht

Das würde Europa in eine schwere Krise stürzen, heißt es in Rats- und Kommissionskreisen. Es drohe ein "Krieg" zwischen Rat und Parlament, und das mitten hinein in die entscheidende Phase der Brexit-Verhandlungen mit einem neuen britischen Premierminister noch vor Ende Oktober.

Kein Wunder also, dass Ursula von der Leyen auch über das Wochenende Tag und Nacht "in hunderten Terminen, Telefonaten, Besprechungen", wie es heißt, alles versuchte, um die Gräben zu überbrücken. Um die erforderliche Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion (154 Abgeordnete) doch noch für sich zu gewinnen, arbeitete sie deren schriftlichen Forderungskatalog ab. In der Plenardebatte will sie weitere Zugeständnisse "an die proeuropäischen Mandatare" machen, wobei die Grünen und die Linke jedenfalls gegen sie stimmen wollen.

In einem Punkt will die Deutsche hart bleiben und keinerlei Zugeständnisse an nationale Wünsche machen, sollte sie Präsidentin werden: bei der Geschlechterparität der Kommissare. Von der Leyen besteht darauf, dass 14 von 28 Kommissaren weiblich sein müssen, sie eingeschlossen. Sie hat die Regierungen in den Mitgliedsländern gebeten, jeweils zwei Kandidaten zu nominieren, eine Frau und einen Mann, damit sie entsprechend auswählen kann, wie dem STANDARD in Brüssel bestätigt wurde. Bisher wurden jedoch viel mehr Männer als Frauen nominiert. (Thomas Mayer aus Brüssel, 14.7.2019)