Die Oppositionspolitiker Ilja Jaschin (links) und Ljubow Sobol während ihrer Protestaktion am Sonntag.

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Die Regierungspartei Einiges Russland quält sich durch neue Umfragetiefs. Bei Wahlen in den beiden größten russischen Städten Moskau und St. Petersburg sortiert nun die Wahlkommission prominente Kremlkritiker daher vorher aus.

Istanbul dient als warnendes Beispiel: Dort hatte im Juni der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewonnen – gegen Ex-Ministerpräsident Binali Yıldırım, einen bekannten Politiker der regierenden AKP, gegen allen administrativen Druck und mediales Dauerfeuer regierungstreuer TV-Sender, ja selbst der Wahlwiederholung zum Trotz, die Präsident Tayyip Erdoğan angeordnet hatte, weil ihm das Ergebnis in der ersten Runde nicht passte.

Im Kreml wurden das türkische Ergebnis und die daraus folgende Schwächung Erdoğans aufmerksam registriert. Das politische System in den zwei Schwarzmeer-Anrainerstaaten lässt sich gut vergleichen, die charismatischen Führer – nach der Krise, die dem Abschuss einer russischen MiG durch ein türkisches Kampfflugzeug folgte, auch wieder (zumindest vorübergehend) fest befreundet – steuern ihre Länder immer stärker Richtung Autoritarismus. Doch die einst enorme Popularität sowohl Erdoğans als auch Wladimir Putins erodiert zunehmend.

Bereits drei Wahlniederlagen

Der Kreml hat bereits im vergangenen Herbst drei empfindliche Wahlschlappen einstecken müssen, als die Kandidaten von Einiges Russland in den Regionen Chabarowsk und Wladimir sowie in der russischen Teilrepublik Chakassien bei Gouverneurswahlen unterlagen. In der strategisch wichtigeren Region Primorje um den Pazifikhafen Wladiwostok bewahrte der Kreml nach einem Manipulationsskandal seine Kontrolle nur durch eine Neuansetzung der Wahl, den Austausch des eigenen Kandidaten und den Ausschluss des Oppositionskandidaten.

Doch bei allem gebotenen Respekt: Wladiwostok ist nicht St. Petersburg oder gar Moskau. Eine Schlappe in der Hauptstadt kann und will sich Einiges Russland nicht leisten. Im Herbst stehen wichtige Wahlen an. In Moskau wird das Parlament, in Petersburg gar der Gouverneur gewählt. Dabei ist die Partei selbst laut dem staatlichen Umfrageinstitut WZIOM mit einem Wert von offiziell 32,2 Prozent auf einem neuen Umfragetief angekommen: So schlecht waren die Ergebnisse für Einiges Russland zuletzt 2006. Übrigens: Auch die Werte für Putin waren Ende Mai mit 30,8 Prozent auf einem Rekordtief, ehe WZIOM eilig die Berechnungsmethoden für die Vertrauensfrage änderte.

Es besteht die reale Gefahr, dass Einiges Russland seine Mehrheit in der Moskauer Duma verliert. Um dieses Szenario zu vermeiden, wendet die Obrigkeit zwei Methoden an. Erstens bewerben sich Politiker des Einigen Russland als formell unabhängige Kandidaten um ein Mandat, um sich vom immer schlechter werdenden Image der Partei abzugrenzen.

Angebliche Unterschriftenfälschung

In Petersburg hat die Opposition dann einen Skandal um die administrativ betriebene Sammlung und Fälschung von Unterstützerunterschriften für den amtierenden Gouverneur Alexander Beglow aufgedeckt. Rechtliche Folgen hatte das in den sozialen Netzwerken kursierende Video, das Beamtinnen beim Abschreiben von Daten und Unterschriften zeigt, nicht.

Zumindest nicht für Beglow. Stattdessen wurde die Wahlkommission an anderer Stelle aktiv und sortierte in Moskau die bekanntesten Kandidaten der Opposition aus. Angeblich sollen auch sie Unterschriften gefälscht haben, um sich als Kandidaten registrieren zu lassen. Neun Kandidaten sei die Registrierung verweigert worden, teilte der Chef der Moskauer Wahlkommission, Walentin Gorbunow, am Montag mit. Namen nannte er nicht, doch die Betroffenen hatten sich bereits vorher nach Zurückweisung ihrer Dokumente selbst an die Öffentlichkeit gewandt.

Ilja Jaschin beispielsweise: Jaschin ist seit Jahren eines der bekanntesten Gesichter der außerparlamentarischen Opposition. 2017 schaffte er es dann trotz massiven administrativen Widerstands, sich zum Kommunalabgeordneten eines Moskauer Stadtteils wählen zu lassen. Nun sollen angeblich 11,4 Prozent seiner Unterstützerunterschriften fehlerhaft sein – zulässig sind maximal zehn Prozent.

Das Gleiche betrifft Ljubow Sobol, die sich als Juristin von Alexej Nawalny einen Namen durch Korruptionsermittlungen insbesondere gegen den als Putin-Koch und Finanzier der Söldnertruppe "Wagner" geltenden Oligarchen Jewgeni Prigoschin gemacht hat. Bei Sobol wurden fast 15 Prozent der Unterschriften aussortiert. "Das ist eine politische Entscheidung", meinte sie. Die meisten Unterschriften seien aufgrund der Expertise eines Schriftdeuters abgelehnt worden, teilte Sobol mit. "Angeblich sind die Unterschriften von einer Person gemacht worden", hieß es ihren Angaben nach zur Begründung. Doch brachten die "Experten" weder Beispiele an, noch erklärten sie überhaupt ihre Methodik.

Nicht besser erging es dem ehemaligen Duma-Abgeordneten Dmitri Gudkow. Ihm wurden gleich 18,4 Prozent der Unterschriften weggestrichen. Der ehemalige Chef der Partei Jabloko, Sergej Mitrochin, teilte ebenfalls mit, dass er wegen falscher Unterschriften von der Wahl ausgeschlossen werden solle.

Protestaktion in Moskau

An einer Protestaktion der Opposition am Sonntag nahmen offiziellen Angaben nach etwa 1.000 Personen teil. Nicht viel für Moskau, auch wenn der Sommer bei den Russen ohnehin eher der Datscha gehört und die meisten Stadtbewohner am Wochenende aufs Land fliehen. Der Protest endete mit 39 Festnahmen, darunter auch der von Sobol und Jaschin. Aufgeben wollen die Oppositionellen noch nicht. Sie haben weitere Aktionen angekündigt. Doch derzeit sieht es nicht so aus, als ob die Obrigkeit zu Kompromissen bereit ist.

Die Moskauer Wahlkommission hat sich bereits über "Erpressung und Druck" einzelner Kandidaten beklagt, die ihre Registrierung durchsetzen wollten. In den Handlungen dieser Kandidaten gebe es Anzeichen von Straftaten, heißt es in der Erklärung. Ein Indiz dafür, dass die Behörden gewillt sind, weitere Demonstrationen mit aller Härte zu unterdrücken.

Ein Spiel mit dem Feuer

Die Politologin Lilja Schewzowa sieht in dem Vorgehen eine Abkehr der politischen Führung vom Wahlprinzip, selbst als Imitation. "In Petersburg und Moskau hat die Obrigkeit eine andere Wahl getroffen – sie hat auf die Imitation von Wahlen und das Spielen von Demokratie verzichtet; offen und eindeutig. Das ist kein Ereignis mit lokalem Charakter. Es zeugt von einem Übergang zu einer neuen Regierungsform", kommentierte Schewzowa.

Der völlige Ausschluss der Opposition aus dem politischen Prozess ist für den Kreml ein Spiel mit dem Feuer. Bislang hat die russische Führung ihre Gegner oft geschickt gegeneinander ausgespielt. Mit der Abschottung vereinigt sie ihre Gegner. Das Prinzip mag für einige Zeit gelingen, angesichts der zunehmenden Unzufriedenheit der Russen mit ihrer Lebenslage droht dann aber eine weitere Radikalisierung der Proteste. (André Ballin aus Moskau, 15.7.2019)