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Mehr als jeder zweite Euro im Onlinehandel fließt an Amazon. Österreichische Webshops führen ein Dasein als Mauerblümchen.

Reuters

Vor 40 Jahren durchquerte Stephan Mayer-Heinisch Afrika auf der Ladefläche eines Lasters. Die Familie rief ihn zurück. Seine Liebe zu Afrika riss nie ab. Heute versucht er als Präsident des Handelsverbands im Dienste des Einzelhandels die stationären Geschäfte vor der Übermacht der Onlineriesen zu retten. Amazon zollt er durchaus Respekt.

STANDARD: Sie wollten in Ihrer Jugend die Welt retten. Wie hätte das gelingen sollen?

Mayer-Heinisch: Ich wusste nicht, was ich studieren sollte. Beim Inskribieren an der Uni war dann die Schlange bei Betriebswirtschaft lang und bei Jus kurz. Also stellte ich mich bei Jus an. Das Studium war stinklangweilig, aber ich lernte einen bekannten Völkerrechtler kennen, der sich stark mit Afrika beschäftigte. Ich rutschte hinein, lernte Afrika lieben und schätzen. Ich arbeitete in Kapstadt, Nigeria, Kenia. Ich habe damals verstanden, dass das Schicksal Europas zu einem großen Teil in Afrika bestimmt wird. Damals dachte ich, ich werde den Kontinent mit Entwicklungshilfe retten, was heute natürlich völlig überholt ist. Und ich schrieb Bücher, etwa über die Ernährung in Ägypten: Ich hatte die "bahnbrechende" Erkenntnis, dass 25 Prozent der Lebensmittelimporte in den Häfen von Ratten vernichtet werden. Niemand hat diese Bücher je gelesen (lacht).

STANDARD: Ging der Idealismus über die Jahrzehnte verloren?

Mayer-Heinisch: Er verschwindet kurz in der Rushhour des Lebens – mit Job, Familie. Aber er kommt wieder, je älter man wird. Das Leben und Arbeiten in Afrika hat mich sehr geprägt. Ich bereise es heute noch regelmäßig, wir haben viele Freunde dort. Zu Weihnachten geht es nach Ruanda. Ich bin in meinen 20ern auf der Ladefläche eines Lastwagens von Mombasa nach London und von Kapstadt nach Kairo gefahren. Es war die größte Freiheit meines Lebens. Heute ginge das nicht mehr, man müsste durch dutzende Bürgerkriegsgebiete. Für mich ist Afrika der Kontinent mit den größten Schätzen menschlicher wie kultureller Natur, und schön ist es auch noch. Nur hat der Kolonialismus bis heute tiefste Verwundungen verursacht.

STANDARD: Warum kehrten Sie nach Österreich zurück?

Mayer-Heinisch: Nur durch die Intervention meiner Eltern. Sie waren mir sehr wichtig, und ich war ein wohlerzogenes Kind.

STANDARD: Sie stiegen nach Afrika in Graz ins Schuhgeschäft ein.

Mayer-Heinisch: Mein Großvater hat die Leder-&-Schuh-Gruppe gegründet, mein Vater war Miniteilhaber. Familie Mayer-Rieckh hatte weitaus mehr Anteile. Ich arbeitete mich in die Geschäftsführung von Humanic hinauf, wir expandierten nach Osteuropa. Bis es zu Konflikten mit dem Mehrheitseigentümer kam. Sie können sich ausrechnen, wer bei so etwas gewinnt. Mit 50 ging ich und begann ein neues Leben. In diesem Alter ist man ja praktisch unvermittelbar. Damals sagte, ich musste neu beginnen, heute sage ich, ich durfte. Mein ganzes Leben war niemals geplant, es war immer Zufall.

STANDARD: Es gibt im Handel heute kaum noch große familiengeführte Konzerne. Ist deren Blütezeit vorbei?

Mayer-Heinisch: Sie alle haben Lebenszyklen: ein, zwei, drei Generationen. Sie wachsen, stabilisieren sich, verschwinden wieder. Das ist nicht naturgegeben, aber es schaffen nur wenige, über die dritte und vierte Generation hinaus zu wachsen. Die Lehre, die ich daraus ziehe: Ohne Regeln und Charakter gehen sie unter.

STANDARD: Auch Amazon treibt traditionelle Händler vor sich her. Der Onlinekonzern wurde zu einer Weltmacht. Hätten Sie vor zehn Jahren damit gerechnet?

Mayer-Heinisch: Never ever. Es war unvorstellbar. Es war wie bei der Erfindung der Eisenbahn: Da wurde in sie investiert, als es noch hieß, Eisenbahn fahren schade der Gesundheit. Oder Heißluftballon fliegen: Die Leute meinten, ab 100 Metern Höhe zerreißt das Herz. Auch die mobile Kommunikation war in der heutigen Form undenkbar. Aber nicht nur der Kopf der Menschen, auch die Struktur der Regulative war darauf nicht vorbereitet. Jetzt brennt die Hütte. Doch immer haben noch nicht alle das Ausmaß der Sprengkraft verstanden. Es braucht lange, um sich zerstörerischer Kräfte bewusst zu werden. Aber vielleicht gibt es in zehn Jahren einen neuen Amazon, der den derzeitigen umbringt.

STANDARD: Werfen Sie der Politik vor, zu spät reagiert zu haben?

Mayer-Heinisch: Regulierung hinkt immer hinterher, disruptive Entwicklungen überfordern sie. Nehmen Sie E-Scooter: Sie kamen wie eine Welle, ohne dass es Regeln gab, wo genau sie fahren dürfen. Die Politik kann nicht alles vorhersehen. Aber sie muss klug reagieren und wachsam sein, nach China, ins Silicon Valley fahren, um Entwicklungen zu verstehen. Es ist höchste Zeit für einen digitalen Deal: Wer immer uns regieren wird, muss darauf eingehen.

STANDARD: Amazon operiert mit erheblichen Steuervorteilen ...

Mayer-Heinisch: Die Ubers, Amazons und Airbnbs dieser Welt sind nicht böse. Aber sie haben ein regulatorisches Vakuum genutzt, sie stießen in Räume vor, die nicht geregelt sind, und waren dabei intelligent und schnell. Hut ab. Diese Leerräume müssen gefüllt werden.

STANDARD: Ist es realistisch, dass die Wettbewerbsbehörden Amazon in die Schranken weisen können?

Mayer-Heinisch: Es ist ein starker Beginn, das Eis ist nun gebrochen. Aber gelingen wird es nur über gerechte, faire Besteuerung auf europäischer Ebene. Es muss zwischen Online- und stationären Händlern Waffengleichheit herrschen. Im Moment kämpft der Einzelhändler mit einem kleinen Feitel gegen Amazon mit dem langen Schwert. Was mich auch wahnsinnig ärgert, sind falsch bewertete Logistikkosten. Es ist nicht normal, dass sich Schuhe aus China um einen Euro nach Europa transportieren lassen. Dahinter stehen eine hochsubventionierte Schifffahrt, hochsubventionierte Häfen und eine hochsubventionierte Ölindustrie. Es ist auch falsch, Schuhe mit dem Flugzeug zu importieren. Doch es ist eben einfach, so lange wir Flugbenzin nicht besteuern.

STANDARD: Auch diese Woche rufen Gewerkschafter in Deutschland Lagermitarbeiter zum Streik gegen Amazon auf, um höhere Löhne zu erkämpfen. Doch bisher führen alle Proteste ins Leere. Warum ist Amazon dagegen offenbar immun?

Mayer-Heinisch: Weil neue rahmenrechtliche Bedingungen nötig sind, von der Steuer bis zur Leiharbeit. Es wird anders nicht gehen. Mir sagte ein hoher Gewerkschafter einmal: Wissen 'S, mit dem Einzelhandel ist es so einfach, er kann nicht fliehen. Das hat sich nun geändert. Wir werden den stationären Handel retten müssen. Weil wenn er geht, verlieren Stadt und Land an Lebensqualität. Wir züchten uns in Österreich eine große Agglomeration in Wien. Vieles andere droht zu veröden.

STANDARD: Haben Händler nicht auch selbst vieles verschlafen? Der Vormarsch der Onlineanbieter basiert vor allem auch auf dem Wohlwollen der Kunden, die sich im Web einfach besser bedient fühlen.

Mayer-Heinisch: Händler sind auch nur Menschen. Wie jede reife Industrie war der stationäre Handel lange mit sich selbst beschäftigt. Er hat dabei mitunter auf Kundenbedürfnisse, wie einen großzügigeren Umgang mit Reklamationen, den Amazon vorlebt, vergessen. Und er betrieb Flächenexpansion bis ins letzte Tal. Es muss nicht 140 Vögeles in Österreich geben. Der Handel wurde denkfaul, sah sich als Baum, der endlos wächst. Bis der Schock des E-Commerce kam, der weitere Tote bringen wird. Bei den einen löst das Angst aus, bei anderen Hirnwindungen. Letztere werden sich überlegen, was der Kunde will.

STANDARD: Ihrer Ansicht nach will der Kunde in Wien auch sonntags einkaufen. Dies ist freilich ein ewiges Kräftemessen der Sozialpartner.

Mayer-Heinisch: Auch hier braucht es Waffengleichheit. Und es würde neue Jobs kreieren. Fünf Stunden längeres Offenhalten in Wiens Innenstadt könnte 1000 Arbeitsplätze bringen. In einer Stadt, in der zehn Prozent arbeitslos sind, ist das nicht schlecht. Warum darf es Onlineeinkauf rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche spielen und bei uns nicht? Wir sind es, die Steuern zahlen, die für Wertschöpfung sorgen, die gut 400.000 Leute beschäftigen. Warum behandelt man uns so schlecht?

STANDARD: Viele Händler zweifeln, dass es sich für sie rechnet.

Mayer-Heinisch: Die unternehmerische Energie ist nicht dumm. Rentiert es sich nicht, sperrt man zu. Der Wirt öffnet auch nicht Sonntag Früh, sondern ab Mittag. Der Taxler steht nicht um zwei Uhr Früh vorm Cafe Prückel. Ich plädiere für die Freiheit der Händler, selbst entscheiden zu dürfen.

STANDARD: Was könnte Kunden noch in Geschäfte zurückholen?

Mayer-Heinisch: Der Mensch ist ein soziales Tier, er will berühren, riechen, fühlen, sprechen. Das kann Internet nicht. Ich nenne es das Buffetgefühl: Gehe ich an duftenden Erdbeeren vorbei, kaufe ich sie mir. Es gibt Bücher, die man will, weil sie so gut anzugreifen sind. Und es gibt ein altes jüdisches Geheimnis: Angeblich kommen die Leute wegen der Ware. Das ist so wahnsinnig wahr. (Verena Kainrath, 16.7.2019)