Budapest, 2015. Ein Garten, es ist dunkel, nachts. Aker Al Obaidi versteckt sich im Gebüsch. Seit seiner Flucht aus der irakischen Stadt Mossul sind zwei Monate vergangen. Die ungarische Polizei und das Militär suchen nach illegalen Flüchtlingen. Der damals 14-Jährige weiß, wenn sie ihn erwischen, wird es schlimm. Andere wurden erwischt, es setzte Prügel, Erniedrigung und Rückführung.

Der Teenager bewahrt die Ruhe, das hat er beim Ringen gelernt. Er schätzt die Situation ab, weiß, wann was zu tun ist. Er kennt seine Kräfte, seine Möglichkeiten. Angriff oder Verteidigung, den Gegner einschätzen. Neben dem Gebüsch steht ein Polizist oder ein Soldat, so genau ist das in der Budapester Nacht nicht zu erkennen. Aker hält den Atem an. Seine Ausbildung als Ringer hat dem jungen Iraker auch in Serbien geholfen, schon dort konnte er sich auf seine Instinkte verlassen, hatte gewusst, wem er vertrauen kann und wer ihm Böses will. Er wird nicht erwischt. Der Bub aus Mossul schafft es mit anderen in einem Auto bis nach Österreich. Sie werden angehalten, er kommt ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen.

Der strahlende Ringer

Jetzt sitzt Al Obaidi in einem Café in der Innsbrucker Innenstadt. Er sieht so aus, wie viele 19-Jährige eben aussehen. Die Jeans hat Löcher, das ist modisch. Das schwarze T-Shirt sitzt nicht zu eng, die Sneaker sind cool. Zwischendurch lacht er, und obwohl Al Obaidi nicht perfekt Deutsch spricht, bringt er sich immer wieder in das Gespräch ein, will erzählen, von seiner Flucht aus dem Irak, seiner Zeit in Traiskirchen, dem Zwischenstopp in der Steiermark und Inzing, seiner neuen Heimat in Tirol. Seine "richtige Heimat", wie er betont. Auf seinen Händen sind Rückstände weißer Farbe zu sehen. Al Obaidi kommt auch heute direkt von seiner Lehre in einem Malerbetrieb. Wie jeden Wochentag: zuerst arbeiten, dann "Matte", also trainieren.

Aker Al Obaidi auf der Matte, die für ihn die Welt bedeutet.
Foto: Klaus Draxl

Seine Augen strahlen vor allem dann, wenn er über das Ringen spricht. "Ich weiß, dass ich Talent habe, und ich weiß, dass ich viel erreichen kann", sagt er. Olympische Spiele seien das Ziel, "vielleicht eine Medaille." Am liebsten für Österreich, denn im Tiroler Inzing hat Al Obaidi ein neues Zuhause gefunden. Und nicht nur das: "Der Much und seine Frau sind meine neue Familie. Er ist wie ein Vater für mich."

Der Much heißt eigentlich Klaus Draxl, ist im Vorstand des Ringervereins RSC Inzing und ein bekannter Name im österreichischen Ringsport. Auch der 54-Jährige sitzt heute im Café in der Innsbrucker Innenstadt: "Aker hat riesiges Talent. Aber darüber hinaus ist er einfach ein richtig feiner Kerl. Er ist das perfekte Beispiel für gelungene Integration."

Keine Angst

Dieses Talent hat der junge Mann im Juni bewiesen: Bei der Junioren-Europameisterschaft im spanischen Ponteverda rang er sich in der Klasse bis 67 kg (griechisch-römischer Stil) fast ungebremst bis ins Viertelfinale. Gegen den Armenier Hayk Melikyan lag er bereits 5:0 in Front, drei Punkte hätten zum Aufstieg ins Halbfinale gereicht, schlussendlich musste er sich 5:14 geschlagen geben. Eine Enttäuschung, die nicht lange anhalten sollte. In der Hoffnungsrunde ließ Al Obaidi dem Serben Aleksa Ilic keine Chance (10:2).

Im Kampf um Bronze stellte sich ihm der Russe Abdulvakhab Asainov entgegen. Russland ist eine der größten Ringernationen, die russische Schule hat einen exzellenten Ruf. Das ist unangenehm für Gegner: "Es ist mir egal, woher der Gegner kommt. Ich will gewinnen. Ich habe keine Angst", sagt Al Obaidi. Asainov hatte nur kurz etwas zu melden, führte zur Pause 2:1, musste sich am Ende mit 2:7 geschlagen geben. Für Al Obaidi ist die Bronzemedaille der bisher größte Erfolg seiner jungen Karriere. Es soll in dieser Tonart weitergehen. "Er wird uns noch große Freude bereiten", sagt Klaus Draxl.

Der Kampf um Bronze bei der Junioren-Europameisterschaft.
United World Wrestling

Schule vs. Ringen

Al Obaidi wuchs in Mossul auf. 2014 übernahm der "Islamische Staat" die Kontrolle über die nordirakische Stadt. Al Obaidis Vater ist eine große Nummer im Ringsport, er ist im Trainerstab der Nationalteams des Iraks und des Irans. Die Zukunft für den kleinen Aker schien vorgezeichnet: Ringen um jeden Preis. Aber als Al Oabidi bei seinem ersten Turnier nicht gleich den Sieg holte, wurde er vorerst abgeschrieben. Sein Talent wurde erst ein Jahr später erkannt. Alles andere war von da an Nebensache: "Meine Mutter wollte, dass ich in die Schule gehe, aber mein Vater war dagegen. Ich sollte nur trainieren," erinnert sich Al Obaidi. Die Ringerkinder waren für den Vater eine Wertanlage, er wollte Provisionen kassieren.

Für Al Obaidi war die Schule aber wichtig. So wartete er, bis Papa aus dem Haus war, um sich in den Unterricht zu schleichen. Die Schule ging bis zwölf Uhr, kurz vor dem Ende musste er nach Hause eilen, um rechtzeitig auf der Trainingsmatte zu stehen, wenn der Vater heimkam – sonst setzte es Schläge und Tritte. Körperliche Züchtigung war normal. Während er zu Hause seine eigenen Kämpfe ausfocht, wurde das Leben in Mossul unter dem IS immer heikler. Al Obaidi und seine Mutter sind Christen, für den Vater war "Ringen die einzige Religion".

Der beinah 15-Jährige ergreift mit einer Nachbarin die Flucht. Über die Türkei, Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Ungarn schaffte er es nach Österreich. Al Obaidi erinnert sich an seine erste Zeit in Österreich: "Das Leben in Traiskirchen war gar nicht gut. Überall waren Gruppen von Männern, die geraucht und Alkohol getrunken haben. Es gab oft Streit. Ich war 14 und alleine." Besonders schwierig sollen die Essenszeiten gewesen sein: "Man musste sich zu jedem Essen eine Stunde anstellen. Manchmal haben mir dann Männer aus der Schlange gesagt, ich solle mich wieder hinten anstellen."

Weihnachten in Tirol

Zuerst arbeiten, dann "Matte".
Foto: Klaus Draxl

Später kam Al Obaidi in ein Heim für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in Deutschfeistritz in der Steiermark, dann übersiedelte er nach Graz. Und fand zurück zum Ringen. Er trainierte bei einem Grazer Verein, so richtig klappen wollte das aber nicht. Mit dem Trainer hatte er "kein gutes Verhältnis." Bis 2017 der RSC Inzing, also "Much" Draxl, auf den jungen Ringer aufmerksam wurde und ihn einlud. Al Obaidi nahm an einem Probetraining und an der Weihnachtsfeier teil und sah sich die Vereinsmeisterschaften der Kinder an. "Er hat zwei Tage bei uns gewohnt, anschließend fragte ich ihn beim Frühstück, ob er sich vorstellen könne, für Inzing zu ringen."

Seit Februar 2018 wohnt er fix in Tirol. Heimweh habe er erst da kennengelernt: "Ich habe meine Mutter und meine Geschwister vermisst, aber Heimweh hatte ich nie. Wenn ich jetzt auf Trainingslager im Ausland bin, will ich so schnell wie möglich wieder zurück nach Inzing. Das ist Heimweh." Und der Irak? "Was habe ich dort? Nichts. Dort sterbe ich."

2018 traf er sich mit seiner Mutter in Teheran. In den Irak darf er nicht zurück, will er auch gar nicht. Draxl half ihm, in Tirol Fuß zu fassen. Al Obaidi konnte seine Lehre zum Maler und Anstreicher, die er in Graz nach seinem Hauptschulabschluss begonnen hatte, bei einem kleinen Betrieb in Inzing fortsetzen. Er arbeitet und ist zufrieden. Mit ihm ist man auch zufrieden. Draxl ergänzt: "Sein Lehrherr kommt jetzt immer wieder zu Wettkämpfen. Er ist ein richtiger Ringfan geworden."

Al Obaidi bezog eine kleine Garconniere in der 3847-Einwohner-Gemeinde. Im Mittelpunkt seines Lebens steht das Ringen. Der 19-Jährige hat eine exzellente Technik und darüber hinaus den Siegeswillen, der im Ringen so unumgänglich ist. Ein fertiger Ringer ist er aber noch nicht: "Mittlerweile kennen meine Gegner meine Technik und können sich besser darauf einstellen. Aber meine Trainer helfen mir dabei, neue Styles in mein Ringen zu bringen. Als ich nach Inzing kam, war ich ungefähr bei fünf, jetzt bin ich schon bald bei zehn."

Refugees Wrestling Program

Das Ziel ist auch die Staatsbürgerschaft.
Foto: imago images / Kadir Caliskan

Für 2019 hat Al Obaidi die österreichische Sportnationalität. Die muss jährlich beantragt werden und kostet jeweils 5000 Schweizer Franken. Das heißt, dass er Österreich bei internationalen Wettkämpfen (außer bei Olympischen Spielen) vertreten kann. Die Zustimmung des irakischen Verbands war kein Problem, der Vater legte ein gutes Wort ein. Schon bei seinem ersten Wettkampf, dem Austrian Open in Götzis, holte Al Obaidi die Silbermedaille. Nächstes Ziel ist die Junioren-WM, die am Montag in Tallinn beginnt. Draxl: "Aker ist in Topform. Er will Gold." Eine Medaille sei auf jeden Fall möglich.

Ziel ist auch die Staatsbürgerschaft. "Nach fünf Jahren kann man sie beantragen, bei herausragenden sportlichen Leistungen schon früher. Und seine Leistungen sind herausragend", sagt Draxl.

Eine andere kleine Möglichkeit für einen Start bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 wäre das Refugees-Programm des IOC, das 2016 in Rio erstmals zehn Sportlerinnen und Sportlern mit Flüchtlingsstatus eine Teilnahme ermöglicht hatte. Mit der Staatsbürgerschaft wäre Al Obaidi auch ein Kandidat für den Heeresportverein.

Manchmal, wenn Aker Al Obaidi durch Inzing spaziert, wird er gefragt, wie es seinem Vater geht. "Danke", sagt er dann, "dem Much geht es gut." (Andreas Hagenauer 12.8.2019)