Thilo Vogel (39) lebt seit 2016 im Dachzelt und gründete 2017 auf Facebook die Dachzeltnomaden.

Foto: Vogeladventure / Thilo Vogel

Das Dachzelt ist keine neue Erfindung. Doch mitunter wandert Gegenständliches in die virtuelle Welt, wächst sich dort zum Phänomen aus und schwappt als solches zurück ins echte Leben. Der Juni 2017 ist ja wirklich keine Ewigkeit her. Damals gründete Thilo Vogel, der vor 39 Jahren an der Nordsee zur Welt gekommen ist, eine Facebook-Gruppe und nannte sie Dachzeltnomaden.

Nomaden (das Wort ist griechischen Ursprungs ), befand vor 39 Jahren der Neue Brockhaus, sind Angehörige eines wandernden Hirtenvolks. Damals freilich gab es die Begriffe Mietnomaden oder Jobnomaden nicht, geschweige denn jenen des Dachzeltnomaden.

Abenteuer reloaded: Das Dachzelt ist ein Trend, für den immer mehr anfällig sind, die ein Stück weit loslassen wollen.
Foto: iStockphoto / Sergey Tinyakov

Der Dachzeltnomade ist kein Einzelgänger. Die Facebook-Gruppe hat mittlerweile mehr als 16.000 Mitglieder. In dieser Interessengemeinschaft wird gefachsimpelt. Und der Neuling erhält Antworten auf seine unzähligen Fragen. Dachzelt ist ja nicht gleich Dachzelt, es gibt die unterschiedlichsten Konstruktionen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf dem Autodach montiert werden, auf einer Pick-up-Ladefläche oder einem Anhänger. Einige kann man mit einem passenden Gestell sogar auf dem Boden platzieren. Dabei allerdings handelt es sich strenggenommen um ein Dachzelt außer Dienst. Oder ein Zelt.

Die Entwicklung schreitet rasant voran. Rund 40 Hersteller bewerben sich derzeit auf einem schnell wachsenden Markt, der offenbar nicht so leicht zu bedienen ist. Auf Facebook gibt es nicht wenige Kommentare von Betrübten, deren bestelltes Dachzelt den vereinbarten Liefertermin ignorierte. Was die Urlaubsplanung über den Haufen warf.

Ein Dachzelt-Dorf auf dem Bootssteg
Foto: vogeladventure.com

An einem verlängerten Wochenende vor nicht allzu langer Zeit landete Facebook in der realen Welt: Dachzelt-Festival am Brombachsee im Fränkischen Seenland, unweit von Nürnberg. 4000 Menschen, 1600 Fahrzeuge, "locker 60 bis 70 Prozent davon mit einem Zelt am Dach", sagt Vogel, der Organisator. Das kommt hin, schließlich war auch der Standard Teil des Festivals, wenn auch ein kleiner, er nächtigte anfangs, also von Donnerstag auf Freitag, in Ermangelung eines eigenen Dachzelts in den Bäumen. Das Festival dauerte dennoch bis Sonntag. Die Dachzeltnomaden hatten Mietzelte angeboten, für die Dauer des Festes spendiert von den Produzenten. Einige davon waren auf einem Bootssteg aufgebaut, andere zwischen Bäumen im sogenannten Schwedenwald mit Blick auf den Brombachsee. Die Mieteinnahmen gingen an ein Spendenprojekt. Die Nomaden spendeten mehr als 40.000 Euro.

Naturgemäß gab es Lagerfeuer, sicherheitshalber in Feuerschalen, Yoga, Reiseberichte, abendliche Konzerte, Workshops, Vorträge. Ein kleiner Auszug der Themen: Dachzelt selber basteln, Wege zur autarken Stromversorgung, die Küchenkiste fürs Auto, Heizung fürs Dachzelt, Schubladensysteme für den Pkw, Landschaftsfotografie mit dem Smartphone, mobil leben und arbeiten, Wildkräuter für die Reiseapotheke. Und auf der Händlermeile gab's Dachzelte und Utensilien.

Ein Reihen-Dachzelte auf dem Lastwagen
Foto: Benno Zelsacher

"Das ist erst der Anfang einer großen, langen Reise", sagt Vogel, der die Wohnung aufgab, seit Juni 2016 im Dachzelt lebt, sommers wie winters, zur Not mit Heizdecke. "100 Prozent Dachzelt geht nicht", gesteht er. Alles in allem habe er seit seiner Nomadenwerdung wohl zwei Wochen nicht auf dem Dach geschlafen. Stürme und Gewitter waren schuld, dass er sich ins Auto, einen Kombi, zurückziehen musste. Der studierte Maschinenbauingenieur, der diesen Beruf nie ausgeübt hat, zog und zieht als Fotograf durch die Lande. "Unterwegs zu sein hat mit Lust zu tun, erst in zweiter Linie mit dem Beruf." Für den Beruf als Fotograf sei es jedenfalls praktisch, er könne seine Aufträge besser bedienen, müsse von diesen nicht zurück ins Büro, denn das Büro ist dank Digitalisierung das Auto. Doch weil sich das Nomadentum derart ausgewachsen hat, gründete er als Einzelunternehmen die Firma Dachzeltnomaden in Hanau. Diese benötigt einen festen Wohnsitz.

Persönliches Minimum

Ihm, Vogel, gehe es ums Reduzieren, darum, das persönliche Minimum zu finden. "Ich hab eh schon wieder zu viel im Auto", findet er, "überall gibt es diesen komischen Abstellraum, den Keller. Ich muss mich wieder einmal von ein paar Sachen trennen. Man schleppt viel zu viel mit sich herum." Natürlich hat er Routine darin, zivilisatorischen Bedürfnissen nachzukommen, sei es das Duschen oder der Toilettengang. Möglichkeiten gebe es zuhauf, etwa bei großen Tankstellen oder Campingplätzen.

Das aufblasbare GT Sky Loft für fünf Personen.
Foto: Benno Zelsacher

Im September 2017 fand in Hessen das erste Dachzelttreffen statt, 180 Gesinnungsgenossen aus halb Europa folgten Vogels via Facebook ausgestoßenem Ruf. "Das war schon krass. Ich habe gemerkt, da ist ein Bums drinnen." 2018 dann das erste Festival in Niedersachsen. Und auf den Brombachsee folgt im Herbst in den Niederlanden das erste europäische Dachzeltfestival. Vollzeitnomaden sind selten, häufiger verbreitet ist der Freizeitnomade.

Hartschale oder Klappzelt

Das Dachzelt ist italienischen Ursprungs. Die Firma Autohome, heute noch Marktführer, brachte Ende der 1950er-Jahre zwei Grundtypen auf den Markt, die immer noch ihre Gültigkeit haben. Das Hartschalenzelt und das Klappzelt. Die Hartschale sieht aus wie eine breite Dachbox und ist in wenigen Sekunden entfaltet. Die Liegefläche misst so viel wie die Box, ein Vorteil ist auch das feste Dach. Mehr Raum benötigt und bietet das Klappzelt, das zur Seite oder bei Geländewagen oder Kleinbussen auch nach hinten aufgeklappt werden kann und mit der Leiter abgestützt wird. Die Liegefläche wird im Verhältnis zum Binkel auf dem Dach verdoppelt. Das Aufstellen dauert einige Minuten. Der Handel bietet jede Menge Zubehör wie Vorzelte, Markisen, Duschzelte. Zu den Grundtypen gesellen sich stets neue Variationen. Es gibt Hybride, also eine Hartschale am Dach, die sich zur Seite aufklappen lässt. Für die einen quasi das Ei des Kolumbus, für andere wiederum die Summe der Nachteile beider Welten. Gemeinsam ist den Dachzelten, dass die Bettwäsche in diesen verbleibt. Womit sie wesentlich schneller bezugsfertig sind als Bodenzelte, die jedes Mal neu eingerichtet werden müssen.

Ursprünglich wurde das Dachzelt für Expeditionen oder Abenteuerreisen kreiert, denn droben am Dach fühlt sich der Mensch etwas sicherer als drunten bei den Schlangen, Spinnen, Löwen. Doch auch in der verflossenen DDR gab es kleine, noch oben spitz zulaufende Dachzelte als Zubehör für den Trabant zu erwerben. Die hörten auf den Namen "Villa Sachsenruh".

Die Dachlast ist ein häufig diskutiertes Thema bei den Nomaden. Schließlich brauchen die Zelte einen stabilen Boden und sind daher mit wenigen Ausnahmen, die wiederum andere Nachteile aufweisen, schwer, von 40 Kilogramm aufwärts. Teuer sind sie auch. Bei rund 1000 Euro beginnt der Spaß, man kann auch das Fünffache ausgeben.

Pump up das Zelt

Die spezifische Dachlast steht nicht im Zulassungsschein, sie ist meist in der Bedienungsanleitung des Fahrzeugs zu finden, und hier wird kein Unterschied zwischen dynamischer und statischer Dachlast gemacht. Dynamisch meint während der Fahrt, statisch im Stand. Es gibt Zelte für bis zu fünf Personen, aber keine Berichte, dass ein dermaßen beladenes Auto bei korrekter Montage und passenden Dachträgern in sich zusammengebrochen wäre. Schließlich sollte es in der Lage sein, im Falle eines Überschlags sein eigenes Gewicht zu stemmen.

Anno 2015 trat ein österreichisches Start-up auf den Plan und erfand das aufblasbare Dachzelt. Das glänzt mit geringem Gewicht und Packmaß, aber man braucht schon eine ordentliche Pumpe, um es flott aufzublasen, und das Zusammenlegen geht nicht auf Knopfdruck. Auf dem Campingplatz Donau Wien stellte Gentletent vor kurzem das GT Sky Loft vor, ein Familienzelt mit zwei Zimmern für bis zu fünf Personen. Es passt entweder der Länge nach auf einen Kleinbus oder ragt rechts wie links über das Auto, wo es jeweils mit einer Leiter abzustützen ist. Freilich existiert kein Konzept, das nicht auch Nachteile hat.

Darüber ließ sich am Brombachsee wunderbar diskutieren. Über Hart-, Klapp-, Aufblaszelte, vor allem aber über das Drumherum. Der eine schwört auf seine Dieselheizung, mit der er Luft erhitzt und diese mittels Schläuchen durch sein Zelt zirkulieren lässt. Der andere schüttelt darüber das Haupt und sagt, dass ihm eine dicke Decke völlig ausreiche. Und der Dritte verfügt über einen für arktische Expeditionen konzipierten Schlafsack. Komfort ist eine zutiefst individuelle Angelegenheit. (Benno Zelsacher, RONDO, 19.7.2019)