Wien – In der Wiener Werdertorgasse 6 soll ein Wohnhaus mit Luxuswohnungen und einer Tiefgarage entstehen. Seit Ende April verzögern archäologische Grabungen das Bauvorhaben. Aus gutem Grund: Den Wiener Stadtarchäologen ist es gelungen, in acht Metern Tiefe drei Strebemauern der frühneuzeitlichen Neutorbastion sichtbar zu machen. Teile davon hatten sie bereits 2008 in der benachbarten Neutorgasse freilegen können. In der Baugrube Werdertorgasse entdeckten sie eine weitere archäologische Sensation: eine spätmittelalterliche Uferbefestigung. "Wir stoßen immer wieder auf erstaunliche Funde aus unterschiedlichen Epochen – aber dieser Fund ist für Wien einzigartig", sagt Archäologin und Projektleiterin Ingrid Mader.

"Tiefer Einblick in vergangene Zeiten"

Ursprünglich diente die Konstruktion aus Holz und Stein als Überschwemmungsschutz für die Siedlung im Oberen Werd – damals ein Wiener Vorort im Gebiet zwischen dem heutigen Schottenring und der Roßau, das halbinselförmige Areal lag an einem Altarm der Donau. Trotz Überschwemmungsgefahr siedelten sich dort viele lederverarbeitende Werkstätten an.

Eine Archäologin bei der freigelegten spätmittelalterlichen Uferbefestigung in der Wiener Werdertorgasse.
Foto: APA/ROBERT JAEGER

Das etwa 600 Jahre alte Holz der Uferbefestigung ist dank des feuchten Erdreichs immer noch gut erhalten. Rundherum wurden zahlreiche historische Alltagsgegenstände ausgegraben. Die Palette reicht von Keramikteilen und Obstkernen über die Metallspitze eines Armbrustbolzens bis zu einem eindeutig identifizierbaren Lederschuh. "Solche Grabungen erlauben einen tiefen Einblick in die Alltagsgeschichte vergangener Zeiten", zeigt sich Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) begeistert. "Es ist wichtig zu wissen, auf welch historischem Boden wir stehen."

Grabungen bis Ende Juli

Die Fundstücke werden von den Archäologen umfangreich dokumentiert, analysiert und in einer Fundortdatenbank inventarisiert. Dank dieser Daten kann bei Bauvorhaben oft schon im Vorfeld eingeschätzt werden, welche historischen Relikte sich im Erdreich verbergen. Die Grabungen in der Werdertorgasse laufen noch bis Ende Juli. Schon diese Woche beginnen die Archäologen, Teile der Uferbefestigung abzutragen. Tiefer wollen sie nicht graben. "Wir greifen nur so weit ein wie das Bauvorhaben", erklärt Mader. "Das Erdreich ist der beste Tresor." Man wolle Bodendenkmäler schützen und für künftige Archäologen-Generationen bewahren.

Die Uferbefestigung aus Holz und Stein (rot markiert) befand sich vor über 500 Jahren an einem Altarm der Donau, der mitten durch die heutige Innenstadt verlief.
Foto: Stadtarchäologie Wien

Was davon übrig bleiben wird

Dass nach dem Ende der Grabungen alles wieder zugeschüttet wird, sehen die Stadtarchäologen gelassen: "Das Bauvorhaben muss weitergehen", sagt Projektleiterin Mader. "Während wir hier dokumentieren, wird auf der anderen Seite gebaggert." Viel wird von der Grabungsstätte in der Werdertorgasse jedenfalls nicht übrig bleiben. Immerhin hat der Bauherr den Archäologen zugesichert, eine Vitrine in der Tiefgarage aufzustellen. Darin soll auf ihre Funde hingewiesen werden. (Alexander Polt, 16.7.2019)