Im Gastkommentar erklärt Paulo Gomes, Chefberater im Finanzministerium von Guinea-Bissau, dass das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab für die Gesundheit afrikanischer Volkswirtschaften irreführend ist.

Seit mehr als 80 Jahren ist das Bruttoinlandsprodukt das ultimative Maß für das Wohlergehen einer Ökonomie. Doch angesichts der zunehmenden Komplexität und Technologieorientierung der Volkswirtschaften hinterfragen Ökonomen zunehmend den Nutzen des BIPs als Maßstab für die Gesundheit einer Volkswirtschaft, und mancherorts plädiert man für einen radikal neuen Ansatz. Die Erfahrungen in Afrika zeigen, wie dringend notwendig ein derartiger Ansatz ist.

Der Kontinent leidet seit langem unter den mit der Maßzahl BIP verbundenen Unzulänglichkeiten. Im Jänner prognostizierte die weltweit tätige Ratingagentur Fitch Solutions, dass das durchschnittliche Pro-Kopf-BIP in Afrika stagnieren wird, obwohl das BIP-Wachstum im Schnitt einen Wert von jährlich 4,5 Prozent erreichen sollte. Allerdings sind diese düsteren Prognosen irreführend – und drohen, Investoren zu vertreiben.

Unzureichende Datenlage

Das erste Problem mit BIP-Prognosen für Afrika besteht darin, dass diese auf einer unzureichenden Datenlage beruhen. Die Mehrheit der nationalen Statistikbehörden auf dem Kontinent ist unterentwickelt. Ihnen mangelt es an ausreichender Finanzierung und auch an Unabhängigkeit, um sich umfassende Daten zu beschaffen und Benchmark-Indikatoren zu berechnen. Mit anderen Worten: Die offiziellen BIP-Zahlen könnten grundfalsch sein.

Man denke an Nigeria, das 2014 seine BIP-Daten zum ersten Mal seit über zwei Jahrzehnten überarbeitet hat. Eine solche "Umbasierung" – die erforderlich ist, um strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft zu erfassen – sollte etwa alle fünf Jahre erfolgen. Doch der nationalen Statistikbehörde Nigerias fehlte es an Geld, Daten und dem politischen Willen für eine regelmäßige Umbasierung. Als diese schließlich durchgeführt wurde, stieg das BIP sprunghaft auf 510 Milliarden Dollar an, also beinahe auf das Doppelte des zuvor geschätzten Wertes von 270 Milliarden Dollar. Damit überholte Nigeria Südafrika als größte Volkswirtschaft des Kontinents.

Die Tatsache, dass ein Großteil der Wirtschaftstätigkeit in Afrika auf dem informellen Sektor stattfindet, untergräbt die Zuverlässigkeit der BIP-Statistiken weiter. In Afrika südlich der Sahara entfallen zwei Drittel der Gesamtbeschäftigung auf die informelle Ökonomie; in Städten wie Kampala und Dakar liegt dieser Wert bei 80 Prozent oder sogar darüber. In Nigeria entfallen 50 bis 65 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung auf den informellen Sektor. Eine Maßzahl, die derart viele wirtschaftliche Aktivitäten unberücksichtigt lässt, kann wohl keine solide Grundlage für Investitionsentscheidungen bilden.

Strukturelle Merkmale

Aber selbst im Falle zuverlässigerer Angaben der durchschnittlichen BIP-Werte auf Landes- und Kontinentebene wären diese, insbesondere angesichts der Größe und Vielfalt Afrikas, ein umständlicher Leitfaden für Anleger. Tatsächlich weisen afrikanische Länder mit völlig unterschiedlichen BIP-Zahlen vielleicht mehr – und wichtigere – gemeinsame Merkmale auf als Länder mit ähnlichen BIP-Werten.

So hat beispielsweise Namibias diversifizierte Wirtschaft mit Südafrika, einem Land mit einem beinahe 30-mal höheren BIP, mehr gemeinsam als mit dem Senegal, der, gemessen am BIP, eine etwa ähnliche Wirtschaftsgröße aufweist. Nigerias BIP ist weitaus höher als das des Tschad, dennoch werden die beiden Ökonomien aufgrund der Dynamik ihrer jeweiligen Ölsektoren oftmals miteinander verglichen. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten bieten den Anlegern differenziertere Einblicke, als dies mit plumpen BIP-Durchschnittswerten jemals möglich wäre.

Das historische Zentrum von Lagos.
Foto: APA/AFP/FLORIAN PLAUCHEUR

Blick auf die Städte

Doch die vielleicht beste Methode, sich ein entsprechend differenziertes Bild von der Gesundheit und den Aussichten afrikanischer Ökonomien zu verschaffen, besteht darin, sich auf die Städte zu konzentrieren – die wichtigsten Motoren wirtschaftlicher Entwicklung auf dem Kontinent. Obwohl 60 Prozent aller Afrikaner immer noch in ländlichen Gebieten leben, befindet sich der Kontinent inmitten einer rasanten Urbanisierung. In den nächsten 15 Jahren werden die zehn am schnellsten wachsenden Städte allesamt in Afrika liegen. Die Wirtschaftsleistung von Lagos, der größten Stadt Nigerias, ist höher als die Kenias, einer der vielversprechendsten Ökonomien des Kontinents.

Bereits jetzt bedienen sich einige multinationale Konzerne stadtbasierter Modelle als Leitfaden für ihre Investitionsstrategien in Afrika. Diesen Unternehmen ist bewusst, dass sich hinter miserablen BIP-Durchschnittswerten zunehmend wohlhabende Verbraucher verbergen können, die darauf erpicht sind, qualitativ hochwertige Waren und Dienstleistungen aus dem Ausland zu kaufen. Bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit eines Marktes konzentrieren sie sich daher oftmals auf die Städte und berücksichtigen dabei verschiedene Indikatoren wie Mobilfunkpenetration, Stromverbrauch und Internetbandbreite.

Vier Megacitys

Ein globaler Hersteller von verpackten Lebensmitteln beispielsweise konzentriert sich im Rahmen seiner Afrika-Strategie auf 15 Städte, die zusammen etwa 25 Prozent des in den nächsten fünf Jahren in Afrika erwarteten Gesamtwachstums im Bereich des Verkaufs verpackter Lebensmittel ausmachen. Im weiteren Sinne fließen ausländische Direktinvestitionen in erster Linie in Richtung der vier wichtigsten afrikanischen Megacitys: Kairo, Johannesburg, Nairobi und Lagos.

Freilich werden sowohl auf Stadt- oder Länderebene umfassende und zuverlässige Daten benötigt, um eine solide Grundlage für Investitionsstrategien zu schaffen. Private Unternehmen – einschließlich afrikanischer Technologie-Start-ups – können neue Technologien nutzen, um das zu erreichen. Das nigerianische Datenanalyseunternehmen Terragon beispielsweise zieht Daten über die Mobiltelefonnutzung heran und vergleicht sie mit den Daten seiner Geschäftskunden, um Erkenntnisse über afrikanische Verbraucher zu gewinnen.

Anleger, die solche Gelegenheiten nutzen, um sich ein genaues und differenziertes Bild über die wirtschaftliche Leistung und die Aussichten Afrikas zu verschaffen, könnten enorme Gewinne erzielen. Diejenigen, die den Kontinent auf Grundlage allzu vereinfachter und unvollständiger BIP-Daten abschreiben, werden leer ausgehen. (Paulo Gomes, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 16.7.2019)