Mit offenen Armen für ihre Kritiker versuchte Ursula von der Leyen bei ihrer Bewerbungsrede die nötigen Stimmen einzufangen, 383 von insgesamt 733 erhielt sie auch.

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Im Leben von Ursula von der Leyen gibt es zwei Menschen, die für ihr Grundverständnis vom gemeinsamen Europa prägend waren: Der eine war ihr Vater Ernst Albrecht. Er hatte nach der Gründung der Montanunion, aus der die EU hervorgegangen ist, als hoher Beamter angefangen. Deshalb kam sie 1958 in Brüssel zur Welt.

Die andere richtungsweisende Figur für die studierte Ärztin war Simone Veil. Die Politikerin und Autorin, die den Holocaust überlebte, ist in Frankreich eine Ikone, verehrt für ihr Engagement für Humanität und Menschenrechte. Vor allem: Veil war 1979 die erste Präsidentin des EU-Parlaments.

Zwischen diesen beiden spannte die von den Regierungschefs nominierte von der Leyen Dienstagfrüh ihre Bewerbungsrede vor den EU-Abgeordneten in Straßburg auf. Sie sei "geehrt", 40 Jahre nach der Wahl von Simone Veil hier zu stehen, die eine Vision von Einheit und Gerechtigkeit verfolgt und den Weg der Gleichberechtigung für Frauen geebnet habe.

Vier Jahrzehnte später sei sie "mit Stolz erfüllt", sagen zu können, "dass zum ersten Mal eine Frau Kandidatin für das Amt der Präsidentin der Kommission ist". Veil habe Barrieren und Konventionen überwunden, Pioniere wie sie stünden auch im Zentrum ihrer Vision von Europa. Zum ersten Mal, schon nach wenigen Minuten, kam starker Applaus auf. Die Kandidatin hatte den Grundton offenbar gut getroffen.

Die Wahl des Chefs der Kommission ist die wichtigste Entscheidung des Parlaments zu Beginn der Legislaturperiode. Davon hängt das Arbeitsprogramm aller bis 2024 ab, die gesamten politischen Vorhaben der Gesetzgebung, die "politischen Prioritäten" (s. Wissen). Im Vorfeld war klar, dass die Abstimmung knapp werden könnte, zum Schluss betrug der Überhang nur neun Stimmen. Fast hundert Redner hatten sich für die Debatte nach der Rede angemeldet.

Viel Grundsätzliches

Von der Leyen spricht laut, bestimmt, ihre Ausführungen gehen sehr ins Grundsätzliche. Kurz streift sie die Idee, dass "die Generation meiner Kinder sich ein Leben ohne dieses Heimatgefühl Europa nicht vorstellen" könne. Aber: Heute sei auch den Letzten klar, wie sehr wir für dieses von Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung bedrohte Modell des sozialen Wohlstands, der gesunden Umwelt kämpfen müssen. Wie schon in einem Brief an kritische Sozialdemokraten skizzierte sie ihre Vorhaben: ein Klimaschutzgesetz, einen "grünen Deal für Europa", schon in hundert Tagen. Europa müsse der erste klimaneutrale Kontinent werden.

"Lassen niemanden zurück"

Die Arbeitswelt sei in einem fundamentalen Umbruch, es müsse der Grundsatz gelten: "Wir lassen niemanden zurück." Von der Leyen will auf EU-Ebene den Mindestlohn absichern und eine breit angelegte Förderung für die Jugend: "Wir brauchen fairen Wandel."

Sie verspricht mehr Demokratie, die Durchsetzung des Spitzenkandidatensystems bei EU-Wahlen sowie einen "Neustart" in der Migrationspolitik. Als sie den Satz sagt "Auf See gibt es die Pflicht, menschliches Leben zu retten", fällt der Applaus besonders stark aus – wie so oft in dieser von Appellen und Emotion getragenen Rede. In Erinnerung an ihren Vater erzählt sie, er habe ihr und den sechs Brüdern seine Arbeit für Europa als Aussöhnung so erklärt: "Wir treiben wieder Handel miteinander, und wenn man Handel treibt, dann entstehen Freundschaften, und Freunde schießen nicht aufeinander."

Wer mit ihr Europa stärken wolle, werde sie "als leidenschaftliche Kämpferin auf seiner Seite" haben. Den Spaltern wolle sie "erbitterte Gegnerin sein". Am Ende gibt es Standing Ovations. In der Debatte bekunden die Redner von Christdemokraten, Liberalen und einige Konservative ihre Unterstützung. Redner der Grünen, der Linken und der extremen Rechten und EU-Skeptiker tragen vor, warum sie "eine Fehlbesetzung" sei.

Aber es wird sichtbar, dass die Kandidatin bei den Sozialdemokraten die Schwankenden überzeugte. "Es war eine gute Rede", sagte SPÖ-Abgeordnete Andreas Schieder, der dennoch – wie etwa ein Drittel der sozialdemokratischen Parlamentarier – gegen von der Leyen stimmen wollte. Am Abend war dann klar: 383 der insgesamt 733 an der Wahl teilnehmenden Abgeordneten stimmten für, 327 gegen die scheidende deutsche Verteidigungsministerin. (Thomas Mayer, 17.7.2019)