Sich lesend und schreibend in fremde Welten träumen, um durchhalten zu können. Andrea Camilleri im Jahr 2000 an seinem Schreibtisch.

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Es mag sein, dass der Schriftsteller Andrea Camilleri gegen Ende seines langen Lebens ruhiger wurde, versöhnlicher wurde er nicht. Jedenfalls nicht gegenüber den politischen Zuständen in seinem Heimatland Italien, einem Staat, in dem laut Camilleri kaum weniger Fäulnis herrscht als in Hamlets Dänemark.

Besorgt war der am 6. September 1925 im sizilianischen Porto Empedocle geborene Autor nicht nur wegen der Mafia ("omnipräsent"), der verbreiteten Misswirtschaft ("unausrottbar") oder den Medien ("seicht), sondern in letzter Zeit vor allem wegen Italiens Innenminister Matteo Salvini. Dass sich dieser in der Öffentlichkeit öfter mit Rosenkranz zeige, rufe in ihm Brechreiz hervor, konstatierte er kürzlich.

Grenzen sprengen

Der passionierte Kettenraucher Camilleri, der bis weit über achtzig drei Packungen Zigaretten paffte, galt als Gewissen der Nation. Er trug diese Bürde mit Stolz und Nonchalance.

Nach der Publikation seines autobiografischen Buchs über Sex im Alter und Eskapaden in jüngeren Jahren (Die Pension Eva, 2006) sagte er in einem Interview, es fühle sich gut an, als Gewissen des Landes zu gelten, "vor allem seit ich weiß, dass jede Gewissenhaftigkeit in der Verführung zum Lustvollen ihre natürlichen Grenzen findet". Und Grenzen hat dieser Autor viele überwunden. Als Kind war er oft krank. Damals, als es noch keine Fernseher gab und das Radio zu groß war, um es ins Kinderkrankenzimmer zu schleppen, hat sich Camilleri lesend in fremde Welten geträumt, um durchhalten zu können.

Seine erste große literarische Liebe war Karl May, es folgten Melvilles Moby Dick und Simenons Maigret-Romane. Besonders hätten ihn, so Camilleri, Texte begeistert, die Fakten und Fiktion verbinden, "um dadurch einer Wirklichkeit zu entkommen, die den Verfassern allenfalls als mäßig wünschenswert erschien". Schon mit zwölf begann Camilleri zu schreiben. Nach einem Philosophiestudium war er Theaterregisseur, Fernsehproduzent (für den staatlichen Sender RAI) und Drehbuchautor. Dann entschied er sich für die Autorenlaufbahn. Mehr als 100 Bücher sollten es schließlich werden, darunter historische Romane und 27 Krimis.

Späte Kassenschlager

Es dauerte lange, bis sich Camilleris literarischer Erfolg einstellte. Er war über 70, als sein Commissario Salvo Montalbano voll einschlug – das aber nachhaltig. Seither sind Camilleris Italokrimis – die sich um die eingangs erwähnten Politthemen ebenso drehen wie um Liebe, Tod und das Schicksal der Entrechteten – Kassenschlager. Mehr als 30 Millionen Exemplare davon wurden weltweit verkauft und in dutzende Sprachen übersetzt, wobei der Erfolg von Camilleris Kommissar zu Teilen auch darin liegt, dass er mit Spürsinn ebenso ausgestattet ist wie mit einem stattlichen Appetit nach rustikaler Küche, die genauestens beschrieben wird.

"Montalbano wird gehen, verschwinden, aber ohne zu sterben", sagte Andrea Camilleri, der 57 Jahre mit seiner Frau Rosetta verheiratet blieb. Vor vier Wochen wurde der Autor in kritischem Zustand (Herz-Atem-Probleme) ins Spital eingeliefert. Nun ist Andrea Camilleri in Rom, wo er seit langem lebte, 93-jährig verstorben. (Stefan Gmünder, 17.7.2019)