Zweieinhalb Stunden nach Schabbatbeginn schaltet der Messias der Säkularen seine Handykamera ein und geht auf Facebook live. "Guten Abend, Schabbat Shalom, Tiberias", sagt Ron Cobi, Dreitagebart, Shorts, Turnschuhe. Der Bürgermeister steht am See Genezareth, hinter ihm dringt Housemusik aus den Restaurants, daneben verkaufen Händler an Ständen Schmuck und Windspiele. "Wir sind hier an der Promenade von Tiberias, sehr viele Leute. Hier gibt es keinen religiösen Zwang vonseiten der Charedim. Alles ist hier geöffnet." Um Ron Cobi tummeln sich Menschen, sie rufen, "Held", "König", "Du hast die Stadt wieder zum Leben erweckt".

Die Charedim, die Gottesfürchtigen, die in den vergangenen Jahren verstärkt nach Tiberias gezogen sind, können das jetzt nicht sehen. Für sie ist der Schabbat ein Ruhetag, an dem Arbeit, elektrische Geräte und Autofahren tabu sind. Sie sitzen jetzt, nach dem Schabbatmahl, zu Hause mit ihren Familien. Was hier an der Promenade geschieht, ist für sie nichts anderes als die Schändung des göttlichen Ruhetags.

Am Strand von Tiberias ist Bürgermeister Ron Cobi (links) ein Held, den man für Selfies gerne ins Visier nimmt.
Kaufmann

Morddrohungen gegen Cobi

Doch genau dafür ist Ron Cobi im vergangenen Jahr als Bürgermeisterkandidat angetreten. Er hat der Charedisierung den Kampf angesagt. Geöffnete Restaurants, Konzerte, Familienveranstaltungen und Buslinien am Schabbat – das war sein Versprechen. Er hat sich damit auch Feinde gemacht: Seit seinem Amtsantritt hat er Morddrohungen erhalten. Am jüdischen Fest Lag Baomer, an dem traditionell Feuer entzündet werden, haben Ultraorthodoxe in Tiberias Berichten zufolge ein Abbild des Bürgermeisters mit der Aufschrift "Stirb, Ron Cobi" auf ein Lagerfeuer gestellt.

Es tobt ein Kampf zwischen den Ultraorthodoxen und den Säkularen. Und damit ist die 40.000-Einwohner-Stadt nicht allein. Die Spannungen sind landesweit immer stärker zu spüren. Denn die Gemeinschaft der Ultraorthodoxen wächst rasant: Im Vergleich zu säkularen Frauen bringen ultraorthodoxe im Schnitt 6,9 statt 2,2 Kinder zur Welt. Derzeit sind rund zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung charedisch. Bis 2039 sollen es Prognosen zufolge 19 Prozent sein. Blickt man nur auf die jüdische Bevölkerung, so könnten sie bis zum Jahr 2065 sogar 40 Prozent ausmachen.

Streit über Wehrpflicht

Schon jetzt streitet das Land über Öffnungszeiten und Bauarbeiten am Schabbat, über Geschlechtertrennung in Bussen, was offiziell verboten ist, und über den Wehrdienst, von dem Charedim bislang ausgenommen sind. Viele Israelis empfinden das zunehmend als ungerecht.

Die Koalitionsverhandlungen im Mai sind auch an der Frage zerbrochen, wie stark und wie schnell die Gottesfürchtigen in die Armee integriert werden sollen. Im September wird neu gewählt. Doch die Fragen bleiben: Wie werden die Ultraorthodoxen Israel verändern? Und droht dem Land, was Tiberias bereits jetzt erlebt?

Freitagnachmittag, gut zwei Stunden vor Schabbatbeginn, im Rathaus von Tiberias: Ron Cobi (47) sitzt im dritten Stock mit Blick auf den See. Auf seinem Schreibtisch liegt die hebräische Ausgabe des chinesischen Klassikers Die Kunst des Krieges. In Tiberias sagen viele, Cobi sei einer, der mit dem Kopf durch die Wand will.

Cobi gegen Bevormundung

Ron Cobi selbst sagt: Er respektiere die Religiösen. Jeder solle leben, wie er möchte. Aber keiner solle mit seiner Religion andere bevormunden. "Vor zehn, 15 Jahren hat die Stadt sich verändert, wurde immer religiöser", sagt er. "Tiberias wurde das Ziel von Leuten, die sie zu einer Stadt der Charedim verwandeln wollten. Früher waren hier nur zehn Prozent der Bevölkerung charedisch."

Mittlerweile sind es 20 Prozent, Tendenz steigend. Zahlreiche Ultraorthodoxe sind auf der Flucht vor steigenden Mieten im Zentrum des Landes ins nördliche Tiberias gezogen, In den Hügeln der Stadt sind neue orthodoxe Wohnviertel entstanden: Nof Poriya wird derzeit fertiggestellt und soll Platz für 1500 Familien bieten. An einigen Häusern stehen Gerüste, noch fehlen Fenster.

Keine Frauen auf Plakaten

Wie es hier in einigen Monaten aussehen soll, zeigen Plakate am Straßenrand: Männer mit dunklen Anzügen und Hüten sind darauf zu sehen, Buben mit Kippa und Schläfenlocken. Frauen fehlen. Ihre Abbildung in der Öffentlichkeit ist im strengreligiösen Judentum tabu. Männer könnten auf falsche Gedanken kommen.

Freitagmorgen, neun Uhr früh, in einem anderen ultraorthodoxen Wohnviertel von Tiberias. Zu Hause bei Pinchas Vaknin, 54 Jahre alt, dunkler Anzug, schwarze Kippa, langer Bart. Im Hintergrund schleudert die Waschmaschine, seine Frau steht in der Küche und bereitet das Schabbatmahl vor. In elf Stunden beginnt der Ruhetag. Dann kommt hier alles zum Stillstand. Dann darf vor seiner Haustür kein Auto mehr fahren. Ein Verkehrsschild verbietet die Durchfahrt am Schabbat. Der ist Pinchas Vaknin und seinen religiösen Nachbarn heilig.

Pinchas Vaknin tut es weh, wenn Geschäfte am Schabbat offen haben.
Kaufmann

Geheime Geschäftslisten

"Wer am Schabbat öffnen will, kann es tun, wir beschweren uns nicht", sagt der Vater von sechs Kindern. "Aber es tut uns weh." Vaknin leitet eine Talmudschule und saß bis Mitte Juli 15 Jahre lang im Stadtrat. Er bevorzugt es, in Läden einzukaufen, die am Schabbat schließen. Damit fängt das Problem für die Säkularen schon an. Denn unter den Charedim kursieren Listen, wer sich an die Regeln hält. Der Druck auf die Besitzer steigt damit indirekt.

Shimon Mizrahi, 65 Jahre alt, hat bereits darüber nachgedacht, sein Restaurant Big Ben an der Promenade von Tiberias auf koscher umzustellen und samstags zu schließen. "Immer wieder kommen welche vorbei und fragen, warum wir nicht koscher sind."

Doron Suki (53), der Eisladenbesitzer von nebenan, berichtet von Gruppen junger Charedim, die nach dem Koscherzertifikat fragen und wieder kehrt machen, weil er keines hat. "Reine Provokation", meint er. Erst Ron Cobi habe vielen Wirten wieder Mut gemacht, weiterhin am Schabbat zu öffnen, erzählt Shimon Mizrahi.

Charedim wollen Cobi stürzen

Doch seine Tage als Bürgermeister scheinen gezählt. Im Stadtrat von Tiberias vertritt eine Mehrheit von neun der 15 Abgeordneten die Anliegen der Charedim. Weil Cobi das Geld für ihre Belange streichen möchte, verhindern sie seit Monaten, dass der neue Haushalt verabschiedet wird. Der Stadtrat wurde deshalb Mitte Juli aufgelöst. Ob Ron Cobi gehen muss, hängt nun vom Innenminister ab. Der heißt Aryeh Deri und ist selbst ultraorthodox.

Ron Cobi hat aber einen Plan B: Er will im September zur Knesset-Wahl antreten und Deri als Innenminister ablösen. Das klingt utopisch. Die Badegäste am Tchelet-Strand finden das genau richtig. Technomusik dröhnt dort am Samstagnachmittag aus den Lautsprecherboxen, der süßlich-penetrante Geruch von Wodka Red Bull liegt in der Luft. Männer mit Goldkettchen knacken Sonnenblumenkerne. Als Ron Cobi erscheint, dreht der DJ die Musik ein wenig leiser. Die Menge tobt. "Du bist die Nummer eins", rufen sie dem Bürgermeister zu. "Die Stadt war tot, du hast etwas daraus gemacht." – "Ich werde dich in die Knesset wählen." (Lissy Kaufmann aus Tiberias, 18.7.2019)