So wie diese Gruppe gelangten mehrere tausend junge Wiener Juden 1938 mit Kindertransporten nach England. Vor allem wegen des Brexits wollen manche ihrer Nachkommen wieder Österreicher werden.

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Zehntausende Briten haben seit dem Brexit-Referendum 2016 um eine Doppelstaatsbürgerschaft in einem anderen EU-Land angesucht, darunter auch Nachkommen von Juden, die 1938 aus Österreich vertrieben wurden. Viele von ihnen stoßen dabei allerdings auf ein Hindernis: Ihre Groß- oder Urgroßeltern hatten damals gar keinen österreichischen Pass. Sie zählten zu den sogenannten Ostjuden, die vor oder während des Ersten Weltkriegs aus anderen Teilen des Habsburgerreichs nach Wien übersiedelt waren.

Der Friedensvertrag von St. Germain sah vor, dass sich alle ehemaligen Bürger der Monarchie für jenen Nachfolgestaat entscheiden konnten, dem sie "nach Sprache und Rasse" angehörten. Doch ein Erlass des deutschnationalen Innenministers Leopold Waber 1921 sah vor, dass die sogenannten Optionserklärungen von in Polen geborenen Juden automatisch abgelehnt werden. Bis 1938 war mehr als 100.000 Menschen ein österreichischer Pass dadurch verwehrt, viele von ihnen blieben staatenlos.

Neues Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs

Das von der türkis-blauen Regierung geplante Gesetz zu Doppelstaatsbürgerschaften für die Nachkommen von NS-Vertriebenen hätte dieses Unrecht korrigieren können, doch das Scheitern der Regierung verhinderte dies. Nun aber gibt ein aktuelles Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs für manche Nachkommen von solchen mehrfachen Opfern des Antisemitismus eine neue Chance.

Schon 1993 hatte der Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass vom NS-Regime vertriebene Österreicher ihre Staatsbürgerschaft nie verloren hatten und deshalb auch ihre Nachkommen Österreicher sind. Als im August 2016 der in London lebende Enkel eines 1938 aus Wien Vertriebenen die Feststellung der Staatsbürgerschaft beantragte, lehnte die Stadt Wien dies mit dem Argument ab, dass sein Großvater damals kein Österreicher gewesen sei. Das Verwaltungsgericht Wien lehnte die Beschwerde dagegen ab – doch wie der VfGH am 11. Juni (E 576/2019-9) feststellte, zu Unrecht. Denn die Vorfahren hatten in den 1920er-Jahren eine Optionserklärung für Österreich abgegeben und seien nach den Bestimmungen des Vertrags von St. Germain daher Österreicher gewesen.

Schönheitsfehler beim Urteil

Das Urteil hat einen Schönheitsfehler, sagt der Wiener Anwalt Heinrich Vana, der den Beschwerdeführer vertritt: Der abweisende Bescheid des Innenministeriums sei nie zugestellt worden und habe daher keine Rechtskraft. Andere Abweisungen sind hingegen im Staatsarchiv als rechtskräftig dokumentiert. Zu solchen Fällen hat der VfGH nichts gesagt.

Vana sieht allerdings in der Aussage des Höchstgerichts, dass allein die Optionserklärung von einst konstitutiv ist, also eine Staatsbürgerschaft begründet, ein Zeichen dafür, dass die Richter auch in solchen Fällen zugunsten der Antragsteller urteilen würden. "Ich habe außerdem großes Vertrauen, dass die Gemeinde Wien das Erkenntnis in diesem Sinne umsetzt", sagt er dem STANDARD. Das betreffe auch zahlreiche Fälle aus Großbritannien, die seine Kanzlei betreue.

Wien sucht "gerechte Lösung"

Werner Sedlak, Leiter der Abteilung für Einwanderung und Staatsbürgerschaft in der MA 35, betont, dass die Stadt Wien im Anlassfall das VfGH-Urteil umsetzen, sonst aber erst konkrete Fälle abwarten werde. Man habe aber jedenfalls "ein großes Interesse, auch für Fälle, die nicht ganz vergleichbar sind, im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten eine gerechte Lösung zu finden". Sedlak: "Wenn ein Antrag damals aus rassischen Gründen abgelehnt worden ist, werden wir alles Mögliche versuchen, dies geradezubiegen." (Eric Frey, 19.7.2019)