Woodstock war eine Mischung aus geschäftlichem Kalkül und Hippietraum sowie ein Kampf gegen Regen und Schlamm für die Besucher ...

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Eine Popband hört auf, andere geben ihr Debüt, große Konzerte finden in Parks und auf Kuhweiden statt, es gibt Höhepunkte und Tiefschläge: Das kann die übliche Chronik von zwölf Monaten Pop- und Rockmusikgeschehen sein. Doch es gibt Jahre, in denen die laufenden Ereignisse spektakulärer geraten, in denen Weichen gestellt werden in Richtungen, die man zunächst kaum wahrnimmt und die erst hinterher symbolische Bedeutung gewinnen. 1969 war so ein Jahr. An seinem Ende waren die Sixties nicht nur kalendarisch, sondern auch als gelebter Traum vorbei. Buchstäblich andere Töne wurden angeschlagen, meist härtere; große Karrieren endeten fatal oder entwickelten sich anders. Schauen wir uns an, was vor 50 Jahren alles passierte.

Gleich zu Beginn: Es war nicht irgendeine Popband, die aufhörte, es waren die Beatles, eine Auflösung auf Raten, die sich schon über Monate angekündigt hatte. Am 30. Jänner gaben sie ihr berühmtes Konzert auf einem zugigen Dach in London, von den Nachbarn und der Polizei gestört, für die Nachwelt gefilmt, eine letzte Vorstellung, bevor der Vorhang fiel. Kurz danach ließen sie sich von verschiedenen Anwälten und Managern vertreten. Zwei Monate später war John Lennon bereits ohne die Band unterwegs, mit der frisch angetrauten Yoko Ono auf einer Art Friedens-Happening-Tournee unter anderen im Hotel Sacher in Wien. Im Herbst trat er erstmals ebenfalls ohne die anderen drei auf, dafür mit Yoko und viel Rock-Royalty in Toronto.

Zwei Wochen vor dem Dachkonzert der Beatles kam die erste Platte einer Band heraus, die zuvor nur als Vorgruppe getourt hatte. Sie würden untergehen wie ein Luftschiff aus Blei, hatte man prophezeit. Die fanden das lustig, die brennende Hindenburg zierte nun das Cover, und sie nannten sich, unkorrekt buchstabiert und somit korrekt ausgesprochen, Led Zeppelin. Mit ihnen nahm der Rock 'n' Roll, nach dem eingängigen Rockabilly und den immer kunstfertigeren Beatles und mit Yardbirds, Cream und Co als Geburtshelfern, die Wendung ins Dröhnende und Düstere, zu Hard Rock und seinen späteren Metal-Varianten.

Der King und der King of Pop

Im Mai des Jahres veröffentlichten The Who – auch keine Kinder von leisen Tönen – etwas ähnlich Folgenreiches. Die Rockoper Tommy (sie war nicht die erste, aber die erste, die sich so nannte) zeitigte ein Musical, einen Film mit unter anderen Elton John als "that deaf dumb and blind kid", ein Ballett und eine orchestrale Version – das London Symphony Orchestra durfte ausgesuchte Rock-Solisten begleiten. Bald folgten bombastischere Kooperationen und Crossovers, im Herbst etwa Deep Purple mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Puristen sind solche Verbrämungen immer verdächtig gewesen, aber Musical-Fans und der eine oder andere Rock-Opa (sorry for that one) haben sie lieben gelernt; wir sagen nur Jesus Christ Superstar.

Heute ist es bekanntlich umgekehrt, doch 1969 war noch eine Zeit, in der die Pop- und Rockmusiker mit Platten das große Geld machten und Konzerte eher eine Nebenerwerbsquelle darstellten oder überhaupt gratis waren. Im damaligen Sommer allerdings zeigte sich, dass Konzerte im Freien, vor allem wenn riesig und egal ob free oder nicht, zumindest sehr umwegrentabel sein konnten. Im Juni begann der Reigen mit dem ersten Liveauftritt der gerade erst gegründeten "Supergroup" Blind Faith im Londoner Hyde Park. Eric Clapton, Ginger Baker (beide Ex-Cream) und Steve Winwood (Ex-Traffic) spielten, 120.000 hörten zu, und etliche unter ihnen führten auf, was bei Konzerten üblich wurde und was die britische Fachpresse gerne als "idiot dancing" bezeichnete. Just um diese Zeit verließ Brian Jones, Gründungsmitglied der Band, die Rolling Stones. Genauer gesagt, er wurde von den anderen vier wegen seines drogen- und alkoholbedingt immer schwierigeren Verhaltens rausgeschmissen und durch Mick Taylor ersetzt. Dessen erster Auftritt mit den Stones am 5. Juli – wieder ein Free Concert im Hyde Park und das größte, das die Band bis dahin gegeben hatte – wurde zur Gedenkfeier für Jones. Er war zwei Tage zuvor gestorben. Unfall, Selbstmord, Mord? Man weiß es bis heute nicht mit Sicherheit, jedenfalls ist er der Erste in der makabren Liste des Klub 27, dem Musiker angehören, die mit 27 zu Tode kamen, alle nicht aus Altersgründen.

Am 31. Juli trat Elvis Presley zum ersten Mal als Entertainer in Las Vegas auf, begleitet von Gospel- und Soulsängern und Streichorchester. Das war zehn Tage nach der Mondlandung, ein großer Schritt für Elvis, ein Rückschritt für den Rock 'n' Roll. (Der Ehrentitel King ging mehr als ein Jahrzehnt später in der Variante "of Pop" an einen Sänger über, der am 6. Dezember – auf das Datum kommen wir noch zurück – als damals Elfjähriger mit seinen vier Geschwistern auf Platte debütierte, ein gewisser Michael Jackson.) Elvis war ein Gala-Event für reifere Bürger. Ihre jüngeren Geschwister oder vielleicht sogar schon ihre Kinder wären Mitte August gerne bei einem anderen Ereignis dabei gewesen, wenn sie es nicht ohnehin waren, was bei einer geschätzten Besucherzahl von 400.000 eine gewisse Wahrscheinlichkeit hatte. Die Woodstock Music and Art Fair auf den Wiesen einer Farm im Staat New York wurde als "Drei Tage Frieden und Musik" (15. bis 18. August 1969) angekündigt. Sich friedliche Tage zu geben schien ebenso nötig wie illusorisch angesichts der Morde der Manson-Gang wenige Tage zuvor, ganz zu schweigen vom Vietnamkrieg, der damals eskalierte. Niemand auf der Bühne fasste den Widerspruch besser zusammen als Jimi Hendrix mit seiner durch Kriegslärm zerfetzten Version der US-Hymne Star Spangled Banner.

Woodstock war eine bizarre Mischung aus geschäftlichem Kalkül und Hippietraum, ein Karrieresprung für manche Musiker sowie ein Kampf gegen Regen und Schlamm für die Besucher, ein finanzielles Desaster und ein Glanzstück später Ehrenrettung durch Merchandising, oscarprämiierten Film und Dreifach-LP. Es war sicher das am besten in den Köpfen der Nachwelt verankerte Musikevent überhaupt. Dabei gab es andere Festivals, die besser organisiert waren und viel mehr Besucher hatten. Zum Watkins Glen Summer Jam ein paar Jahre später kamen 600.000, um an einem Tag drei Bands zu erleben, von dreieinhalb Millionen bei Rod Stewart in Rio und vom Guinness-Rekordhalter Donauinselfest gar nicht zu reden. Aber Woodstock fand zum richtigen Zeitpunkt statt, als "die Blumenkinder zur Volksbewegung wurden", wie Spiegel online später schrieb.

Dass sie damals nicht dabei waren, soll ein Grund gewesen sein, warum die Stones ihrerseits ein großes Festival organisiert haben wollten. Im Herbst 1969 tourten sie gerade durch die USA, Höhepunkt und Abschluss sollte ein Gratiskonzert in Kalifornien werden. Es wurde zum logistischen Albtraum. Die Organisatoren hatten gerade zwei Tage Zeit für die Vorbereitungen an einem neuen, ungeeigneten Ort, und zu allem Überfluss heuerten sie Hells Angels als Sicherheitskräfte an. Der 6. Dezember wurde zu dem "Tag, an dem alles perfekt schief ging" (Rolling Stone Magazine): Während des Konzerts erstach ein Angel einen jungen Afroamerikaner, der einen Revolver gezückt hatte. "In Altamont starb der Rousseau'sche Traum", war im New Yorker zu lesen, "dass eine neue, junge Generation von selbst eine höhere, freundlichere, liebevollere Ordnung schaffen wird." Auf Fotos und in einem Film der Maysles Brothers ist dokumentiert, was als "Woodstock West" gedacht war und was als Antithese zu jenem Festival, als "Tod der Woodstock-Nation" das Popjahr 1969 beendete.

Die Marke durfte nicht sterben

Doch die Marke Woodstock durfte nicht sterben. Fünf Jubiläumskonzerte fanden bisher in runden Gedenkjahren statt, und Michael Lang, einer der seinerzeitigen Veranstalter, plant gerade den Fünfziger für diesen August, nicht in Bethel (in Woodstock hat es nie stattgefunden), sondern im 200 Kilometer entfernten Watkins Glen. Veteranen des Festivals und jüngere Musiker, von Santana bis Pussy Riot und Chance the Rapper, sollen auftreten. Mittlerweile werden Stückchen der ursprünglichen Bühne, die später als Bauholz diente und im Wald verrottete, als Memorabilia verkauft. Das Geschäft geht gut.

Ob 1969 das bedeutendste Jahr der Pop- und Rockmusik war, darüber lässt sich streiten. Internetumfragen und Expertenpanels schlagen auch 1967 (Sgt. Pepper!) oder 1964 (British Invasion!) vor, 1957 (Elvis und der Cavern Club in Liverpool!) oder 1970 (etliche wunderbare Platten). Der Independent deklarierte 1965 zum "annus mirabilis – the single greatest year in Pop". Für den Autor Fred Kaplan hingegen war 1959 "the year everything changed" auch in der Musik: Motown wurde in Detroit gegründet, Buddy Holly, Richie Valens und The Big Bopper starben bei einem Flugzeugabsturz – "the day the music died", wie Don McLean ein gutes Jahrzehnt später sang.

1969 war wohl das letzte große Jahr der ersten R-'n'-R- und Popgeneration, mittlerweile geht es bei ihr, wenn überhaupt noch um etwas, dann um allerletzte Tourneen. Und langsam kann man sich Gedanken machen, was vor hundert Jahren geschah. Da waren die Geburtstage etwa von Bill Haley oder Screaming Jay Hawkins nicht weit, und Louis Prima und Wynonie Harris galten bereits als kleine Stars. Wer waren denn die? Na ja, das sind nun wirklich schon Grabungsarbeiten für Kulturarchäologen. (Michael Freund, 20.7.2019)