Wissen, wie es war: Gabriele Tergit hielt die Geschichte ihrer jüdischen Familie fest.

Foto: Jens Brüning, Schöffling & Co.
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Noch ehe 1933 die Katastrophe kam, saß in Berlin eine deutsche Jüdin täglich am Schreibtisch und hielt die große Geschichte ihrer assimilierten Familien fest. Sie fuhr damit auch in der Emigration fort, in Prag, Palästina, London, in Not, Elend und Vertreibung. Als sie zurückkehrte, fand sie kein Verständnis für ihre monumentale Arbeit vor. Ihr Roman Effingers blieb auf den Ladentischen liegen.

Hellsichtig hatte die Gerichtsreporterin Elise Reifenberg, die sich als Autorin Gabriele Tergit nannte, Anfang der 1930er-Jahre erkannt, dass unter dem Vernichtungsfuror der Nazis die reichhaltige Kultur des assimilierten jüdischen Großbürgertums unwiederbringlich verlorengehen würde. Ihr verschlug der Schrecken indes nicht die Sprache, sondern trieb sie an, das Zerstörte in einem großen Familienepos zu bewahren: "Damit ihr wisst, wie's war."

Drei assimilierte jüdische Bankiers- und Industriellenfamilien werden in ihrem weitverzweigten Werdegang durch die deutsche Geschichte seit der Reichsgründung dargestellt. Den Auftakt nimmt die Familienchronik 1878 im Süden Deutschlands, in der fiktiven Kleinstadt Kragsheim, wo Paul Effingers Vater eine Uhrmacherwerkstatt betreibt. Der Sohn geht nach Berlin und schließt sich erfolgreich dem an, was europaweit den Fortschrittsoptimismus der Gründerzeit ausmacht: Handel und Industrialisierung im kühnen, teilweise bereits global ausgerichteten Stil.

Späte Jahre des Deutschen Reichs

Der "große Aufschwung", von dem Paul Effinger begeistert nach Hause berichtet, führt in Berlin durch Heiraten drei großbürgerliche jüdische Unternehmerfamilien zusammen: die Oppners und die Goldschmidts als Bankhaus-Dynastie sowie die Effingers, die sowohl als Fabrikanten in Deutschland wie auch mit ihrem bis nach England reichenden Handelshaus international reüssieren. Als Pionier treibt Paul Effinger ab 1890 den Automobilbau voran; man erfährt viel Geschichtliches darüber.

Die Familien stehen exemplarisch für das liberale Großbürgertum der späten Jahre des Deutschen Reichs und der frühen Weimarer Republik. Die Autorin kannte das Milieu "aus dem Effeff": Mit großer Zuneigung beschrieb Elise Hirschmann die Welt ihrer Herkunft und die ihres Mannes, des Berliner Architekten Heinz Reifenberg. Effingers ist vor allem ein Generationenroman: Am Beispiel eines episch weit ausladenden Familienstammbaums wird eine Vielzahl an Schicksalen, Lebensumständen, Milieus in das Erzählwerk eingebunden.

Das großflächige Romanpanorama stellt eine Zeitreise dar. Sie beginnt im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und endet in der völligen Vernichtung der jüdischen Kultur im damaligen Deutschland durch das NS-Regime. Parallel dazu läuft die kenntnisreich eingeflochtene deutsche Geschichte: Bismarck, der hochmütige Wilhelm II., die Aufrüstung zum ersten universalen Krieg, die ausgelassenen Zwanziger, schließlich der finale Untergang des bürgerlichen Europa im Inferno der Weltkriegswiederholung.

Scheinbar mühelos verknüpft die Autorin die Handlungsstränge, reiht sie ein kurzes Kapitel an das andere (insgesamt 151) und verleiht der Vielzahl an Charakteren mit wenigen Strichen eine unverkennbare Schärfe und Kenntlichkeit. Hinreißend gelungen sind die Schilderungen großer Familienfeste ebenso wie die kunstvolle Vergegenwärtigung der Interieurs, Stoffe, Draperien bis hin zur wechselnden Mode. Effingers ist ein betörend sinnlicher Jahrhundertroman, der vor allem durch atmosphärische Dichte und kulturgeschichtlichen Perspektivenreichtum fesselt. Das Berlin der Zwanzigerjahre schwirrte von Avantgarde und neuen Ideen, insbesondere was die Rolle der Frau angeht. Die mondänen Züge der Zeit werden anschaulich geschildert. Bubikopf und kecke Hüte erobern das Stadtbild. Man erfährt: Für die großbürgerlichen Frauen war Schminken etwas Neues.

Jüdisches Bildungsbürgertum

Zeichen der geschichtlichen Weltkrise und der antisemitischen Hetze dringen immer deutlicher in die familiäre Sicherheit des Effinger-Clans ein. Am Ende zerbrach nicht nur die Maßstäbe setzende jüdische Kultur, sondern eine ganze Welt: die des bürgerlichen Europa.

Man hat Tergits Familiensaga eine Art "jüdische Buddenbrooks" genannt. Doch im Unterschied zu dem Roman von Thomas Mann wird hier in kurzweilig knappen, schlanken Kapiteln vorangeschritten. Vor allem aber ist nicht von bürgerlicher Dekadenz, vom Verfall einer überzüchteten Familie die Rede. Vielmehr werden die dem technischen und sozialen Fortschritt zugeneigten Repräsentanten einer Gesellschaftsschicht gezeigt, die sich in ihrer kraftvollen Lebenssubstanz dem Auseinanderfallen ihrer Umgebung entgegenstemmt – bis ihr das Heft des Handelns in ungeahnter Brutalität und kollektiver Mordlust aus der Hand geschlagen wird. Den letzten Brief schreibt der über achtzigjährige Paul Effinger kurz vor der Deportation nach Auschwitz.

Nach großen Menschheitsverbrechen braucht es große literarische Zeugnisse. Effingers ist ein solches. Langmut und Zuwendung verlangt die Lektüre, aber sie beglückt durch die ungewöhnlich tiefe Erfahrung eines Zeitbogens von sieben Jahrzehnten. (Oliver vom Hove, 20.7.2019)