Lebensgeheimnisse und eine Ahnung von Abgründen und Rissen: Norbert Gstrein.

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Norbert Gstrein, "Als ich jung war". Roman. € 22,70 / 352 Seiten. Hanser, München 2019

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Jedes Leben birgt Geheimnisse. Es ist auch von Entscheidungen und Vorfällen der frühen Jahre geprägt, oft bleiben deren Verlauf und Gründe unklar. Wie es nun Norbert Gstrein erneut schafft, lässt sich eindringlich davon erzählen, zugleich fein zwischen den Zeilen das Erzählen selbst reflektieren, um Unklarheiten auf die Spur zu kommen.

Worte geben Möglichkeiten. "Allein die Sprache, allein die Tatsache, wie sich in der Sprache die Wirklichkeit verfestigt hatte, zeigte dann ganz andere Möglichkeiten auf", steht paradigmatisch in Gstreins faszinierendem Roman Als ich jung war. Er verhandelt die Grundfragen, die sein großes Werk seit Einer (1988) antreiben: Was war? Was können wir wissen? Kann es Gewissheit geben? Wie wirkt ein Moment der Vergangenheit auf die ganze Existenz?

Der Ich-Erzähler Franz bemüht sein Gedächtnis, um eine bestimmende Abzweigung seiner frühen Jahre und deren Auswirkungen zu erkunden. Im Restaurant seines Vaters, im "tiefsten Tirol", foto grafierte er bei Hochzeiten. Einer dieser vorgeblich schönsten Tage im Leben endete damals mit dem Tod der Braut, die zerschmettert am Fuße eines Abgrundes lag.

Wie das geschehen konnte, blieb ungeklärt. Oben hatte zuvor das Plateau wegen der Fernsicht jeweils einen eindrucksvollen Hintergrund für die Aufnahmen der Paare abgegeben, und dort hatte Franz abseits eines anderen Festes ein Mädchen geküsst. Beide Vorfälle bilden einen zunächst unklaren Grund für seine Flucht in die USA, wo er 13 Jahre als Skilehrer lebte, bevor er zurückkehrt; und beide verbindet die Erinnerung, die sie mit den amerikanischen Jahren in Beziehung setzt. "Als ich jung war", heißt es, "glaubte ich an fast alles, und später an fast gar nichts mehr."

Sehnsucht nach dem Nichts

Sukzessive ersteht ein dichtes Geflecht der Geschichten, eine Ahnung von Abgründen, von Brückenschlägen und Rissen zwischen wesentlichen Episoden des Lebens. Die Kapitel ziehen immer engere Kreise um Vermutung und Erkenntnis. Einerseits um die Hochzeit der "toten Braut" sowie um den Kuss, dessen Problematik der Erzähler in der zweiten Hälfte des Romans mitteilt. Andererseits um den Selbstmord des Professors, eines merkwürdigen Freundes in den Bergen von Wyoming.

Die beiden Schauplätze und ihre Stimmungen schildert Gstrein nachvollziehbar: das tiefe Tirol und das weite Amerika, beides enge Normwelten – in den Alpen katholisch eingefasst, in den USA von Chauvinismus und Frontier-Geist. Wie in Gstreins vorigem Roman Die kommenden Jahre (2018) ist Amerika ein Fluchtort, auch nun die Idee, "immer noch einen anderen Ort auf der Welt zu haben, immer noch weggehen und neu anfangen zu können". Die Schwägerin in Tirol jedoch kontert, es sei eine "Sehnsucht nach dem Nichts".

Einen Ausdruck starrer Verhältnisse liefern die Hochzeitsfotos mit ihren gleichen Posen, mehrdeutig aufgeladen an der Stelle über dem Abgrund. Der junge Franz positionierte alle Paare auf demselben Platz, im Hintergrund wurde "die Achterschleife erkennbar", "Fluss und Autobahn weit unten im Tal bildeten und die mein Markenzeichen wurde, ein Blick in die Unendlichkeit" – Enge und unerreichbare Ferne.

Konzentriert finden sich die Zustände im Hochzeitsbild der Eltern, das "das bisschen Wahrheit und die ganze Lüge dieses schönsten Augenblicks des Lebens zeigte". Wie der Roman besticht der Satz durch seine Präzision und zugleich durch die weitreichende Bedeutung. Damit fördert er Nachvollziehbarkeit sowie Reflexion. Auch im Detail vermögen Schilderungen (etwa der verschiedenen Weisen des Schneefalls) von der Genauigkeit zu zeugen, wie sie Gstreins Sprachkunst prägt.

Geschehen im Halbdunkel

Auf der poetischen Basis und vor dem Stimmungshintergrund bewegen sich die Grundthemen mit der zentralen Frage "Warum?": Begehren und Gewalt, Unschuld und Schuld, Liebe und Einsamkeit, Normverhalten und Verschleiern. Eine scheinbar unspektakuläre Geschichte entwickelt sich kaum merklich zu einer aufregenden Erzählung.

Sie führt vor, dass es nicht wohl bekommt, aus dem Rahmen zu fallen. Vieles geschieht im Halbdunkel unbeobachtet geglaubter Momente, Zusammenhänge werden oft, wenn überhaupt, lange im Nachhinein verständlich. Das gilt für die tote Braut und für den Selbstmörder in Wyoming. Ihm erzählte Franz von der jungen Sarah, die er geküsst hatte, worauf sich der Professor für sie in einer Weise interessierte, "die auffällig war, die ich aber erst nach seinem Tod verstanden oder zumindest zu verstehen geglaubt habe".

Es ist eine Finesse, dass dieses mögliche Verstehen im Nach hinein durch den klugen Aufbau gestützt wird: abwechselnd die Tirol- und USA-Kapitel, also die zwei Zeitebenen, bis das elfte Kapitel zusammenführt und die beiden kurzen Schlussteile greifen.

Eine Erzählklammer reicht vom genauen ersten Satz – wie in Gstreins Debüt Einer – zum letzten Satz, vom Konjunktiv des Rückblicks bis zum möglichen Neuanfang. "Nach dem Unglück", beginnt Als ich jung war, "das dort vor dreizehn Jahren passiert ist, hätte ich nie gedacht, dass im Schlossrestaurant jemals wieder Hochzeitsfeiern stattfinden würden, und schon gar nicht, dass ausgerechnet mein Bruder sie von neuem anbieten könnte." Und endet mit Unwissenheit, der Reflexion des Erzählens: "Solange niemand etwas von mir wusste, konnte ich alles erzählen, und das war ein guter Anfang." (Klaus Zeyringer, 23. 7. 2019)