Der Scan eines Gesichts soll bei der Kreditvergabe unwahre Aussagen aufdecken oder bei Lebensversicherungen auf ein mögliches Übergewicht des Antragstellers hinweisen.

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Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Versicherung abschließen – zum Beispiel eine Lebensversicherung oder Unfallversicherung. Während Sie online den Antrag ausfüllen, wird Ihr Gesicht von der Handy- oder Computerkamera gefilmt und von Algorithmen vermessen. Nachdem Sie den Antrag abgeschickt haben, poppt auf der Seite des Versicherers eine Benachrichtigung auf: "Es tut uns leid, wir können Sie leider nicht versichern. Ihr Body-Mass-Index ist zu hoch."

Was wie eine Dystopie aus einem Science-Fiction-Film klingt, ist im Reich der Mitte längst Realität. Die Ping An Insurance Group, Chinas größter Versicherungs- und Finanzdienstleister, greift seit geraumer Zeit auf Gesichtsscans zurück, um das Ausfallrisiko seiner Kunden zu berechnen. Wie das Wall Street Journal berichtet, werden die Gesichtsscans unter anderem dazu genutzt, bestimmte biologische Variablen wie das Alter und den Body-Mass-Index der Versicherungswilligen zu schätzen.

Befragung via Videokonferenz

Bei Kreditgeschäften in größerem Umfang müssen die Antragsteller Fragen in einer zehn- bis fünfzehnminütigen Videokonferenz beantworten. Ping An zeichnet das Gespräch auf und analysiert mithilfe eines Computerprogramms, wie der Antragsteller wichtige Fragen – etwa zu Vorerkrankungen – beantwortet. Die Software zur Gesichtserkennung scannt dabei Mikroexpressionen, um die Glaubwürdigkeit der Antragsteller zu bewerten: kleinste, unbewusste Gesichtsveränderungen wie etwa angehobene Augenbrauen oder aufgerissene Augen, die sich nur für Sekundenbruchteile offenbaren und die Gefühle der Person verraten.

An einen Lügendetektor würden sich wohl nur wenige Kreditnehmer freiwillig anschließen lassen – tatsächlich soll bei Ping An die Videokonferenz nach einem Kreditantrag den selben Zweck erfüllen.
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Die Technik soll als Lügendetektor fungieren. Wer die Unwahrheit über Vorerkrankungen oder Unfälle erzählt, könnte entweder Risikoprämien aufgebrummt bekommen oder erst gar nicht versichert werden. Die Software soll sogar erkennen können, ob eine Person raucht. Zeig mir dein Gesicht, und ich sage dir, ob du kreditwürdig bist! Nach eigenen Angaben will das Unternehmen mit dieser Technik seine Kreditausfälle um rund 60 Prozent reduziert haben.

Vordringen in den Alltag

Emotions- und Gesichtserkennung kommt bereits in Bewerbungsgesprächen zum Einsatz, bei Kundengesprächen im Finanz- und Versicherungswesen ist es aber neu. Zwar werden bei der Risikobewertung schon länger Social-Media-Daten berücksichtigt, biometrische Merkmale spielten bislang aber kaum eine Rolle. Anders in China: Dort gehört Gesichtserkennung zum Alltag. Egal, ob beim Bezahlen im Restaurant oder beim Check-in am Flughafen – man weist sich mit seinem Gesicht aus. Wer in Metropolen wie Shenzhen bei Rot auf die Straße geht, wird von Gesichtserkennungssystemen erfasst und auf Bildschirmen an den Pranger gestellt.

In Klassenzimmern werden Schüler vom Gesichtserkennungssystem alle dreißig Sekunden gescannt, ob sie aufmerksam sind und dem Unterricht folgen. Die Gesichtserkennung ist inzwischen so scharf gestellt, dass sie flüchtige Personen in einer Menschenmenge identifizieren kann. Nun wollen auch Banken und Versicherungen mögliche Risikopersonen aus der Masse isolieren. Das Ziel ist, die Bürger mit Technik ehrlicher zu machen.

Keine wissenschaftliche Grundlage

Die methodische Frage ist, ob man vom Gesicht eines Menschen auf dessen Kreditwürdigkeit schließen kann. Der Informatiker Anil Jain, der an der Michigan State University forscht und einer der weltweit führenden Biometrie-Experten ist, sagt über diese Entwicklung: "Das System hat eine schwache Glaubwürdigkeit. Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage, um die Kreditwürdigkeit einer Person anhand ihres Gesichts zu bestimmen." Zwar gibt es sozialwissenschaftliche Studien, die einen Zusammenhang zwischen Bildung – und damit auch Einkommen – und Gesundheit belegen, was für Versicherer wichtige Informationen sind. So ernähren sich arme Menschen ungesünder und sind auch tendenziell fettleibiger als Personen in höheren Einkommensgruppen. Doch was ein optimaler Body-Mass-Index ist, darin sind sich allerdings auch Wissenschafter nicht ganz einig.

Fast Food spricht nicht gerade für eine gesunde Lebensweise – solches Wissen über Kunden will Ping An mittels Gesichtsscans in Erfahrung bringen.
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Das Problem besteht vor allem in der Validität: Wenn die Kamera falsch kalibriert und infolgedessen das Video unscharf ist, wird die Messung verzerrt – und die Aussagekraft der Altersschätzung und des errechneten Body-Mass-Index eingeschränkt. Auch könnte man durch eine Gesichtsstraffung bessere Werte erzielen, was gesundheitspolitisch fragwürdig ist. Der US-Rechtswissenschafter Frank Pasquale, Autor des Buchs The Black Box Society, ironisierte auf Twitter, die biometrische Bonitätsprüfung könne die Nachfrage nach Botox befeuern.

Keine pausbäckigen Kunden

Die ethische Frage ist, ob die aus der Gesichtserkennungstechnologie erhobenen Daten zur Grundlage für die Kreditvergabe oder Bewilligung einer Police gemacht werden dürfen. Darf eine Versicherung einen pausbäckigen Kunden ablehnen, weil das Aussehen Übergewicht und damit ein Gesundheitsrisiko indiziert? Wäre das nicht eine offene Diskriminierung?

Für Biometrie-Experte Jain ist das Verfahren moralisch nicht bedenklich. "Es handelt sich um ein privates Unternehmen, und solange das Gesichtsfoto nicht mit anderen Datenbanken abgeglichen wird, um weitere Informationen herauszufinden, stellt das kein ernsthaftes ethisches Problem dar." Versicherungen, die einen Antrag ablehnen, könnten dies auch aufgrund anderer intransparenter Kriterien tun, die dem Antragsteller verborgen bleiben. Jain befürchtet allerdings, dass die Screening-Praktiken jene Menschen, die aufgrund gesundheitlicher Probleme eine schlechte Bonität haben, abschrecken und aus dem Versicherungsschutz ausgrenzen könnten. Versicherungs- und Kreditnehmer in China müssen sich wohl oder übel darauf einstellen, dass ihr Antrag abgelehnt wird, weil einer Maschine ihr Gesicht nicht passt. (Adrian Lobe, 21.7.2019)